Elfriede im Salon (German Edition)
großzügige Ausgelassenheit gedeutet werden konnte, wäre nur zu einem weiteren Höhepunkt der Peinlichkeiten entartet. Waren die Frauen wieder angezogen, war es vielleicht möglich, dass die Männer wieder reden konnten, wenn vermutlich auch in sehr eingeschränkter Weise. Trotz eines Alkoholspiegels, der selbst nach früherer Gesetzgebung ein Fahrverbot zur Folge gehabt hätte, konnten sich die Männer von ihrem steifen kulturellen Hintergrund nicht lösen. Sie waren in Mehrzahl nicht fähig, eine Orgie zu feiern, obwohl es für Orgien in der Geschichte der abendländischen Kultur genügend Vorbilder gibt. Selbst der Wein, dessen Essenz in den Blutbahnen ihrer Gehirne floss, machte aus ihnen kein enthemmtes Häuflein, das sich von den Fesseln ihres Hintergrundes befreite; es gab keine Tür, kein Fenster aus dem Kerker kultureller Verpflichtungen. Manch einer, der sich durch die ungeschriebenen Gesetze des menschlichen Verhaltens gegängelt fühlt und den kollektiven Rausch als Gelegenheit empfindet, die eingesperrte Sau herauszulassen, hätte die Gelegenheit zum orgiastischen Treiben nützen können. Die Philosophen verstanden es unter der Mitwirkung von Alkohol nur wenig, sich ungezügelter zu verhalten, wobei es an sich übertrieben ist, den Männern ein befreiendes Bewusstsein zu unterstellen, denn alles geschah einfach. Die geistige Disziplin, die sie sich angeeignet hatten, um ihr Denken in klare Bahnen zu lenken und um zu brauchbaren, reproduzierbaren Ergebnissen zu kommen, war untrennbar mit einer Disziplin verbunden, die ihr Verhalten und ihre Gefühlswelt im Fahrwasser ihrer gutbürgerlichen Verhaltensnormen beließ. Trat etwas auf, dass ihr Regelwerk infrage stellte oder gar bedrohte, katapultierte sie dies in eine Gefühlswelt, deren einziger Sinn darin bestehen konnte, einen Anstoß zu geben, die bedrohliche, störende Situation zu verlassen bzw. zu vermeiden. Dies war mit Angst vergleichbar, die auch keinen weiteren Sinn hat, als den Anstoß zu geben, vor einer gefährlichen Situation zu flüchten. Erstaunlich und vielleicht paradox ist das Ergebnis, dass der jeweilige kulturelle Hintergrund, sozusagen das, was man als Essenz aus den geistigen Leistungen seiner Kultur herauszuziehen vermag, einen Gefühlszustand der Beklemmung bewirkt, der mit Geist und Intellektualität nichts zu tun hat, sondern vielmehr einem dumpfen, geistlosen Zustand ähnelt, vielleicht mit etwas Erregung verbunden. Die sprachlosen Philosophen sprechen für sich.
Es war kein Zufall, dass ausgerechnet Robert Unmuth den Vorschlag machte, dass sich die Frauen zum Essen anziehen sollten, da er von den Männern derjenige war, der sich am leichtesten über die ungeschriebenen Gesetze seiner Kultur hinwegsetzen konnte, wenn auch mit seiner Disziplin. Sein früheres Leben war auch ein Versuch, die eigenen kulturellen Beschränktheiten hinter sich zu lassen und bot die Voraussetzung, über die Schwierigkeiten des heutigen Abends nachzudenken. Er hatte weniger ein Problem damit, mit den nackten Frauen zu speisen, aber er hatte ein Bewusstsein dafür, dass seine Kollegen damit Probleme haben mussten. Möglicherweise hätte einer der beiden anderen Männer aus seinem Unbehagen heraus, einen ähnlichen Wunsch geäußert, aber da die Denkfähigkeit des Robert Unmuth weniger eingeschränkt war und Denken zu schnelleren Ergebnissen führt als ein unbehagliches Gefühl, das zumindest zum Teil überwunden werden muss, um sich zu artikulieren, war er derjenige, der als Erster die Forderung aufstellte, die Frauen mögen sich anziehen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass eine Pause den Männern gut tun könnte. Danach würde man weitersehen.
Elfriede hatte Verständnis für die Forderung, wenn sie auch befürchten musste, dass für sie nach dem Essen das Aus kommen könnte. Dr. Schwarz und Professor Hügel konnten, nachdem das im Raum schwebende von Robert Unmuth artikuliert worden war, kurzfristig wieder reden. Ja, die Frauen hätten sich jetzt vor dem Essen wieder anzuziehen. Damit war die Kleiderpflicht beschlossene Sache. Ob es eine verborgene Regung in den Männern gab, die bedauerte, dass die jungen Frauen sich wieder anzögen? Würde nun wieder die Sprache im philosophischen Salon Platz finden? Die Frauen protestierten nicht, suchten ihre verstreuten Kleidungsstücke und zogen sich an.
Es hätte ein Genuss sein sollen, zu sehen, wie die beiden Frauen sich anzogen. Der weiße Slip von Lulu war winzig klein. Sie hatte sich die Mühe
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