Elidar (German Edition)
Sie stand mitten in einer Marmorhalle, rundum ragten rosafarbene Säulen in die Luft und stützen eine herrlich verzierte Decke, die so weit über ihrem Kopf schwebte, dass sie, um die Deckengemälde zu betrachten, sich auf den Rücken hätte legen müssen. Als Magister konnte sie sich doch jede Form der Wunderlichkeit herausnehmen, dachte sie plötzlich. Kurzentschlossen streckte Elidar sich auf dem kalten Boden aus und ließ ihren Blick über das farbenprächtige Gemälde wandern, das ein offensichtlich schwindelfreier Künstler geschaffen hatte. Es zeigte eine Szene aus einem der heiligen Bücher der Ledonier. Im Zentrum war der gekrönte Hirsch dargestellt, der aus vielen Wunden blutend auf der Flucht vor seinen Jägern Schutz bei seiner Mutter, der heiligen Camilla, suchte. Die Heilige blickte mit weit aufgerissenen Augen zum Himmel, ihre Hände flehend erhoben, und ähnelte mit ihren aufgebauschten dunklen Locken, dem glühenden Blick und dem dekorativ zerrissenen, pastellfarben gerüschten Gewand eher einer Schauspielerin aus der Kunstvollen Komödie als der Mutter des Hirschgottes. Der Phantasie des Malers waren hier offensichtlich die Pferde durchgegangen. Oder die Hunde?
Elidar kicherte, denn ihr Blick war auf die Hundemeute gefallen, die dem Hirschgott Jason folgte. Niemand konnte ernsthaft glauben, dass diese niedlichen, wuscheligen, pummeligen Schoßhündchen den Hirschgott zu Boden reißen und zerfleischen sollten.
Ein Hüsteln riss sie aus ihrer Betrachtung. Sie wandte gemächlich den Kopf, erblickte ein Paar dunkelgekleidete Beine.
»Hallo, Sao-Tan«, sagte sie.
Der hünenhafte Leibwächter ging neben ihr in die Hocke und musterte sie mit schiefgelegtem Kopf. Sie sah das Amüsement in seinen Augen, obwohl seine Miene so beherrscht und unbewegt war wie immer.
»Geht es dir gut?«, fragte er.
»Bestens«, erwiderte sie und setzte sich auf. »Ich habe mir das da angesehen.« Mit einer Kopfbewegung deutete sie zur Decke.
Sao-Tan sah nicht hoch. Er zuckte nur gleichmütig mit den Achseln. »Du willst zu meiner Herrin?«
»Ich habe meinen Besuch nicht angekündigt«, erwiderte Elidar. »Aber ich hatte das Gefühl, dass ich erwartet werde.«
Sao-Tan reichte ihr die Hand und zog sie auf die Beine. Sie war inzwischen nicht mehr sehr viel kleiner als er, reichte ihm bis zum Kinn. Sein langer Zopf hatte inzwischen jedoch mehr silberne als schwarze Haare, er war kein junger Mann mehr. Aber die Leichtigkeit, mit der er ihr auf die Füße half, zeigte ihr die Kraft, die in seinen Armen und Schultern stecken musste.
»Du bist sicherlich erwünscht«, sagte er. »Meine Herrin hat sich schon gefragt, ob du sie vielleicht vergessen haben könntest.«
»Das könnte ich niemals!«, erwiderte Elidar voller Überzeugung.
Sao-Tan lächelte schwach. »Nun, dann folge mir bitte.«
Sie lief neben ihm her und fragte sich, wie viele Wege durch das Palatium es wohl geben mochte. Sie war schon so oft hier gewesen, und jedes Mal hatte Sao-Tan sie auf einem anderen Weg zu den Gemächern der Prinzessin geführt.
»Sie ermüdet schnell dieser Tage«, sagte er unvermittelt, bevor er eine hohe, mit Schnitzwerk verzierte Tür öffnete. »Nimm bitte Rücksicht.« Und ehe Elidar fragen konnte, was er damit meinte und ob die Prinzessin etwa krank sei, war sie schon durch die Tür getreten und stand vor einem Sessel mit hoher Lehne, in dem Morgenblüte, in eine blumenbestickte Seidendecke gehüllt, kauerte.
Die Prinzessin blickte voller Unmut auf, aber der Zorn in ihrer Miene verschwand augenblicklich und machte einem freudigen Erstaunen Platz. »Elidar«, sagte sie und richtete sich auf. »Wie ich mich freue. Du bist wirklich endlich Magister?«
Elidar nickte nur stumm, so sehr erschreckte sie der Anblick der Prinzessin. Blass und spitz sah ihr Gesicht aus, und der müde Blick belebte sich nur wenig, obwohl sie sich sichtlich über Elidars Anblick freute.
»Ja«, sagte Elidar schließlich und nahm auf dem angebotenen Hocker Platz. »Ja, ich bin endlich Magister. Und es ist alles ganz schrecklich schief gegangen.« Sie berichtete Morgenblüte von ihrer Prüfung und allem, was danach geschehen war.
Die Prinzessin lauschte konzentriert. »Wie überaus seltsam und wunderbar«, sagte sie, als Elidar geendet hatte. Ihr Gesicht hatte etwas Farbe bekommen und sie wirkte lebhafter als zuvor. »Und du denkst, dass dieser Bär seine Magnifizenz vergiftet hat?«
»Vergiftet und dann mit einem Bannzauber belegt, damit Sturm nichts
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