Elidar (German Edition)
fließenden Sprache.
Elidar lehnte sich gegen die Wand des Zimmers und holte das kleine Buch aus der Tasche. Zum wiederholten Male versuchte sie vergeblich, die tanzenden Schriftzeichen zu entziffern.
»Elidar«, hörte sie Morgenblüte rufen. Die Prinzessin saß aufgerichtet auf ihrem Lager, ein Kissen im Rücken, und hielt ihr auffordernd die Hand entgegen. »Zeige mir, was du da hast!«
Elidar stand auf und reichte ihr das Buch. Morgenblüte nahm es und schloss ihre Hände darum. »Ein Mondstrahlbuch«, sagte sie erstaunt. »So eins habe ich zuletzt bei meiner alten Lehrerin Jin-Pa gesehen. Schau nur, Sao-Tan.«
Der Leibwächter beugte sich vor. »Ah«, sagte er ein wenig ratlos. »Das macht keinen sehr kostbaren Eindruck.«
Elidar lachte auf, und Morgenblüte neigte den Kopf. »So sehen sie aus, wenn der Mond sie nicht anlächelt.«
Sie hob die Hand über das modrige Büchlein und flüsterte ein paar Worte in ihrer Sprache. Weiches Licht strahlte auf das Buch nieder und badete es in flüssigem Silber.
»Oh«, sagte Elidar aufgeregt. »Das ist es - das ist das andere Buch! Ich habe darin gelesen!«
Morgenblüte lachte und das Licht erlosch. »Es strengt mich zu sehr an«, beklagte sie sich. Sie reichte Elidar das alte Buch. »Was steht darin?«
Elidar berichtete ihr von den wenigen Sätzen und einzelnen Wörtern, die sie entziffert hatte. Morgenblüte lauschte mit geschlossenen Augen. Dann hob sie erneut die Hand. »Der Silberdrache«, flüsterte sie. »Er ist der Schlüssel.« Ihr Kopf sank auf die Schulter.
Sao-Tan erhob sich und bettete sie wieder auf ihr Lager. Dann bedeutete er Elidar, das Zimmer zu verlassen, damit die Prinzessin in Ruhe schlafen konnte.
Elidar war nicht böse über diesen freundlichen Hinauswurf. Obwohl sie schon seit langem nicht mehr jede Nacht schlief und das Schlafen sogar zeitweise für eine ganze Woche oder länger vergaß, war sie dennoch müde und freute sich darauf, ein wenig ruhen zu können.
In dem kleinen, lichtlosen Raum am unteren Ende der Treppe breitete sie ihre Decke aus, rollte sich in den Mantel und schob ihren Reisesack unter den Kopf. Sie zog das Büchlein hervor und hielt es in den Händen. Mondschein. Das Licht des vollen Mondes war es, das die silberne Erscheinung des Buches zutage brachte. Und nicht nur dies … Sie dachte nun endlich darüber nach, was beim letzten vollen Mond mit ihr geschehen war. Ein halber Monat, wenn nicht sogar ein paar Tage mehr fehlten in ihrem Gedächtnis, und an ihrer Stelle fand sie Bilder von mondbeschienenen Wasserflächen und einige verwirrende Gedanken, Gerüche und Erinnerungen, die sie nicht einordnen konnte. Wann war der nächste volle Mond? Würde sie wieder die Kontrolle über ihr Leben verlieren? Das durfte auf keinen Fall geschehen, denn auf der Reise mit Ruis Karawane musste sie so wachsam sein, wie es nur möglich war. Der Kurator war offensichtlich nicht bereit, seine Zweitfrau in Frieden ziehen zu lassen. Elidar und Sao-Tan würden die Prinzessin Tag und Nacht zu bewachen haben. Vielleicht konnten sie auch Ibramarbi dazu heranziehen, obwohl Elidar glaubte, dass Sao-Tan den Schutz seiner Herrin keinem anderen Menschen anvertrauen würde.
Sie tastete nach dem Silberdrachen. Was hatte Morgenblüte damit gemeint, dass er der Schlüssel sei? Der kleine Anhänger lag kalt und still in ihren Fingern. Elidar starrte blicklos ins Dunkel, und ihre Gedanken wurden immer leiser und hörten auf …
Dunkel? Es war nicht dunkel. Sie schnaubte verächtlich. Was für eine erbärmliche Hütte dies war! Sie streckte sich und atmete tief die staubige, muffige Luft ein. Es würde gut tun, ein paar Schritte zu laufen. Dies war kein schlechter Körper, wenn man seine Beschränkungen in Kauf nahm. Unauffälliger als andere Formen des Daseins. Kaum jemand würde sich nach ihr umdrehen oder vor ihr davonlaufen.
Das kleine Buch in ihrer Hand zog ihren Blick auf sich. Sie blätterte darin herum, las hier eine halbe Seite, dort ein paar Passagen, zuckte die Achseln und steckte es nachlässig ein. Wie unwichtig das war!
Als sie sich erhob, weckten leise Geräusche und Schritte ihre Aufmerksamkeit. Sie wich an die Wand des Zimmers zurück und wartete, die Lider halb gesenkt, damit der Glanz ihrer Augen sie nicht verriet. Wer auch immer dort kam, würde eine Überraschung erleben.
Von einem silbernen Leuchten umhüllt stieg eine hochgewachsene Gestalt die Treppe hinab. Sie senkte die Lider noch ein wenig weiter und betrachtete mit
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