Elidar (German Edition)
dafür.«
Sie fühlte Tränen über ihr Gesicht laufen. Wann hatte sie das letzte Mal geweint? Sie konnte sich nicht erinnern. »Ich habe sie gebeten, mich wenigstens in dieser Nacht sein zu lassen, was ich bin«, flüsterte sie. »Ein Mensch, und nichts als ein Mensch. Sie hat geantwortet, dass sie meinen Wunsch gewährt habe. Sao-Tan, was bin ich?«
Er neigte sich über sie, um sie zu küssen. »Du bist Li-Aung, Königin der Feuerdrachen.«
Sie machte sich frei. »Nein, das bin ich nicht.« Ihre Stimme war ruhig. »Du weißt es, Sao-Tan. Das Feuer verwandelt sich in Eis. Ich bin kein Feuerdrache, Morgenblüte hat recht.«
Er sah sie mit weit geöffneten Augen ruhig an. »Es gibt nicht nur Li-Aung.« Er verneigte sich, als er den Namen nannte. »Sie ist die Göttin, der mein Schwert geweiht ist. Aber es mag sein, dass du Li-Aungtan oder Li-Aungsun bist. Es ist gleichgültig, denn alle Drachengöttinnen sind nur Aspekte der einen Göttin.«
Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen. »Sao-Tan, du machst mich fertig«, beklagte sie sich und hörte ihn lachen.
Das Lachen vertrieb die Dämonen der Nacht. Elidar kam auf die Füße, wobei sie das Sonnensegel herabriss, und reichte Sao-Tan die Hand. »Gehen wir hinein, mein tapferer Held. Ich möchte meine müden Knochen noch ein paar Stunden auf einem weichen Bett ausstrecken.«
34
»S oll ich dich nicht lieber begleiten?« Er stand hinter ihr, und am Klang seiner Stimme erkannte sie seine Besorgnis. Sie schloss ihren Mantel und wandte sich zu ihm um.
»Danke, ich gehe lieber allein.« Sie berührte seinen Hals und liebkoste ihn. Der Schreck der vergangenen Nacht steckte noch tief in ihren Knochen, und sie musste sich gelegentlich vergewissern, dass Sao-Tan lebte und atmete.
Er schloss seine Arme um sie und zog sie an sich. »Du weißt nicht, was dich dort erwartet«, gab er zu bedenken. »Ein Schwert an deiner Seite kann falsche Gedanken im Keim ersticken.«
»Wie ich die Drachen kenne, würden sie dich gar nicht erst einlassen.« Sie seufzte. »Nein, es ist mir lieber, du bleibst hier. Falls ich nicht wiederkehre, musst du Luca um Rat fragen. Und hol dir auch Ibram zur Hilfe.«
»Du rechnest mit Ärger«, stellte er fest.
Elidar machte sich los. »Nein. Aber ich kann ihn nicht ausschließen.« Sie berührte seine Wange mit den Fingerspitzen. »Ruh dich heute aus.«
Er küsste ihre Finger. »Pass auf dich auf.«
Den Weg zum alten Scha'Yassim-Serail fand sie noch immer mit verbundenen Augen. Es war seltsam, am Tor keinen ledonische Gardisten stehen zu sehen. Es stand weit offen und schien unbewacht. Sie betrat den Hof, und auch hier war keine Seele zu sehen, weder Mensch noch Dkhev. Sie sah sich um und schritt dann beherzt auf das Hauptportal zu. Auf diesem Weg hatte sie den Serail noch nie betreten, und sie wusste nicht genau, was sie dahinter erwartete.
Wie schon der Hof wirkte auch die Halle hinter dem Portal, als wäre das große Gebäude seit langem unbewohnt. Staub lag auf allen Oberflächen und unter ihren Füßen knirschte Sand.
Elidar gelangte in den säulenumstandenen Innenhof, der halb verfallen war. Steine waren aus den Balustraden herausgebrochen und lagen auf dem Boden. Die Pflanzen, die einstmals den Hof zu einer kühlen Oase gemacht hatten, waren vertrocknet und das Brunnenbecken in der Mitte des Hofes voller Unrat.
Elidar blickte sich um. Hatte es überhaupt Sinn, hier nach Mukhar-Dag zu suchen? Rui und auch Luca hatten zwar gesagt, der Alte Drache habe sein Domizil in den Serail verlegt, aber hier lebten offensichtlich nur Spinnen und Fledermäuse.
Sie drang tiefer in das Gebäude ein. Ihre Schritte hallten laut von den Wänden wider. Der Serail war leer, sie stieß auf ihrem Weg ins Innere weder auf Möbel noch Wandschmuck oder irgendeinen anderen Gebrauchsgegenstand. Anscheinend hatte der Statthalter alles mitgenommen, und die Dkhev gaben sich mit dem nackten Gebäude zufrieden.
Irgendwann verlor Elidar die Orientierung. Sie ging weiter, bis sie einen der vielen kleinen Innenhöfe erreichte, und setzte sich dort für eine kleine Verschnaufpause auf eine steinerne Bank. Irgendwo in dem Gebäude sang ein Vogel. Elidar legte den Kopf in den Nacken, die Sonne brannte ihr heiß ins Gesicht. Sie blickte mit weit geöffneten Augen in die sengende Glut und genoss die Hitze und Helligkeit.
So erfrischt, als hätte sie tief und fest geschlafen, erhob sie sich nach einer Weile wieder, um den Rückweg anzutreten. Mukhar-Dag musste warten. Sie
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