Elina Wiik - 02 - Sing wie ein Vogel
Rosén gab es etwas, das ihr fremd blieb. Etwas, das aus dem Rahmen fiel.
Was ist mein Geheimnis?, dachte sie. Habe ich eins? Vielleicht bin ich deswegen nicht verheiratet. Die Männer, für die ich mich interessierte, waren nicht wirklich an mir interessiert. Wohingegen mir die, die mich wollten, nicht passten.
Sie war enttäuscht, dass sie nichts Geheimnisvolles mit sich herumtrug.
Plötzlich sank ihr Kopf schwer nach unten. Langsam stand sie auf und trat vor den Spiegel. Das Gesicht, das ihr darin begegnete, war ernst.
Warum belügst du dich selber?, dachte sie. Nur weil du nicht an dein eigenes Geheimnis denken willst? Du wirst ihm ohnehin nicht entgehen.
15
»John. Warte mal.«
Die Frau hinter dem Glasfenster der Rezeption sprang auf und verschwand aus Elinas Blickfeld. Dann tauchte sie vor ihnen auf. Sie stürzte auf John Rosén zu und fiel ihm um den Hals.
»Wie ich mich freue, dich zu sehen. Sag, dass du zurückkommst. Was hast du in Västerås zu suchen? Wie konntest du in so ein Kaff ziehen?«
»Hallo, Aina«, sagte John Rosén und löste sich vorsichtig von ihr. »Das ist Elina Wiik von der Polizei in Västerås.«
»Dann verstehe ich es besser«, sagte die Frau. »So hübsche Polizistinnen haben wir nicht in Göteborg. Da hat so eine alte Schachtel wie ich keine Chance.«
Elina lachte und reichte ihr die Hand.
»Hallo«, sagte sie fröhlich.
»Wir sind mit Gerhard verabredet«, erzählte John Rosén.
»Hätte ich’s mir doch denken können«, sagte Aina. »Was ist bloß los in dieser Stadt? Es ist schrecklich. Willst du Gerhard helfen, den Mordfall zu lösen? Ich ruf ihn sofort an.« Sie lief zurück an die Rezeption. Ziemlich flink für ihr Alter, dachte Elina.
Es dauerte nur zwei Minuten, dann kam Gerhard Tallberg ihnen am Drehkreuz entgegen.
»Ich weiß nicht, ob ich zwei solche Filous einlassen soll«, sagte er. »Dies ist immerhin das Haus der Ordnungsmacht.«
Er umarmte John Rosén herzlich.
»Hallo, du altes Rußgesicht«, sagte dieser.
Rußgesicht?, dachte Elina.
Gerhard Tallberg war der größte Polizist, den sie jemals gesehen hatte. Er überragte sie um einen ganzen Kopf und sie war immerhin um einiges größer als die Frauen im Durchschnitt. Als sie sich begrüßten, verschwand ihre Hand in seiner. Sein fleischiges Gesicht war ein einziges breites Lächeln.
»Ich kenne Sie von Zeitungsfotos«, sagte er. »Nett, Ihre Bekanntschaft zu machen. Kommt, wir gehen zu mir rauf.«
Gerhard Tallbergs Dienstzimmer im Präsidium war größer als ihr Zimmer in Västerås. Der Schreibtisch war mit Papieren und Akten übersät.
»Wo soll ich anfangen?«, fragte Tallberg.
»Am Ende«, sagte Rosén. »Sag uns nur, wer der Mörder ist. Das reicht.«
»Ich würde deinen Wunsch ja gern erfüllen. Aber da es unmöglich ist, beginne ich wohl doch am Anfang. Habt ihr was über den Fall gelesen?«
»Bruchstückhaft. Geh davon aus, dass wir nichts wissen.«
»Gut. Erland Bergenstrand war zweiundsiebzig Jahre alt und Rentner, ein vermögender Rentner. Nach einer erfolgreichen Karriere in der Wirtschaft war er mehrfacher Millionär. Er war Geschäftsführer in verschiedenen Unternehmen und in den letzten Jahren Unternehmensberater. Seinen letzten Job hatte er bei SKF und seinen letzten Auftrag als Berater in der Kommune Kungsbacka. Vor drei Tagen wurde er von seiner sechsundfünfzigjährigen Ehefrau Birgitta tot aufgefunden, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Sie arbeitet halbtags als Sprechstundenhilfe. Er lag auf dem Fußboden im Badezimmer mit einer Kugel im Kopf. Eine ziemlich schmutzige Angelegenheit. Trotzdem gibt es einen Anhaltspunkt: Unser Täter hat nämlich Schuhabdrücke im Blut hinterlassen. Einen richtig guten, die anderen zunehmend schwächer, je weiter er sich vom Tatort entfernte. Er verließ das Haus durch die Tür.«
»Ist er nach dem Schuss im Bad herumgetrampelt?«, unterbrach John Rosén ihn.
»Scheint so. Bergenstrand wurde von der Tür aus erschossen, zu dem Schluss sind die von der Spurensicherung gekommen, nachdem sie den Ein- und Austritt des Projektils bestimmt haben. Und dann ist der Mörder hineingegangen. Schwer zu verstehen, warum. Vielleicht, um sich zu überzeugen, dass Bergenstrand wirklich tot war.«
Tallberg erhob sich und begann herumzuwandern.
»Welche Schuhgröße?«, fragte Rosén.
»Vermutlich 42. Ein nicht allzu großer Mann. Oder eine große Frau. Das ist auch möglich. Derbe Gummisohlen, noch kein bisschen abgenutzt. Wir versuchen die
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