Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
erscheint mir das noch zweifelhafter. Sein Vater sagt, dass Jamal nie irgendeiner Organisation angehört habe.«
»Wie lässt sich dann die israelische Fahndung erklären?«
»Es gibt nur zwei denkbare Erklärungen. Entweder wusste der Vater nicht, womit sich sein Sohn beschäftigte, oder der Steckbrief war gefälscht.«
»Gefälscht? Von wem?«
»Von jemandem, der Jamal helfen wollte. Der Hintergrund dieses Dokuments ist etwas sonderbar. Es tauchte in seiner Akte bei der Migrationsbehörde auf, ohne dass jemand hätte sagen können, wann und wie es dort hingeraten war. Dann hat es Agnes in die Finger bekommen, und nachdem sie einige Artikel dazu geschrieben hatte, war die Sache geklärt.«
»Falls er nicht politisch verfolgt wurde, warum ist er dann hierhergeflüchtet?«
»Aus demselben Grund wie viele andere. Er wollte leben. Er wollte eine Zukunft haben.«
»Wie war er als Mensch?«
»Nett. Intelligent. Während der zwei Jahre im Versteck kam er gut zurecht. Viele macht das vollkommen fertig. Das ist einer der Gründe, warum wir nie von uns aus vorschlagen, dass sie bleiben sollen. In Schweden auf der Flucht zu sein, ist schlimmer, als man meinen sollte. Die Unsicherheit, das Nichtstun, die Armut, die ständige Verfolgung, das alles ist wahnsinnig belastend. Aber Jamal kam damit klar, und auch anschließend ist er gut zurechtgekommen. Bis …«
»Wer hat ihn dann ermorden wollen? Hatte er Feinde?«
Die Frau schüttelte den Kopf.
»Mir ist das unbegreiflich. Aber ich weiß schließlich auch nicht genau, was er tat, nachdem er bei uns ausgezogen war.«
»Erwähnte er seinen verschollenen Verwandten?«
»Sayed? Seinen Cousin? Ja, das tat er.«
Elina beugte sich vor.
»Erzählen Sie alles, was Sie wissen. Einzelheiten, alles, was Sie über diese Sache wissen.«
»Jamal rief mich an, ich erinnere mich nicht mehr genau, wann, aber es ist ein paar Jahre her. Er sagte, sein Cousin Sayed hätte nach Schweden kommen sollen, aber irgendwas sei passiert. Jamal wusste nicht, was, und wollte, dass ich ihm helfe. Ich erkundigte mich bei verschiedenen Stellen, unter anderem beim Roten Kreuz, aber Sayed war spurlos verschwunden. Das letzte Lebenszeichen von ihm kam aus Moskau. Was dann geschah, weiß ich nicht.«
»Wissen Sie, wer Sayeds Reise bezahlte?«
»Nein.«
»Könnte das Jamal gewesen sein? Er versuchte ungefähr zu jenem Zeitpunkt, einen Kredit aufzunehmen.«
»Das klingt wenig wahrscheinlich. Sie waren schließlich nur Cousins, wenn Sie verstehen, was ich meine. Verwandt, aber sie standen sich nicht so nahe wie Brüder. Normalerweise sammeln die Familien im Heimatland Geld. Man bezahlt im Voraus. Aber es ist natürlich denkbar, dass Jamal das Geld vorstrecken wollte.«
»Kennen Sie jemanden namens Ahmed Qourir?«
»Im Zusammenhang mit Jamal?«
Elina nickte. Die Frau runzelte die Stirn.
»Nein, der Name sagt mir nichts. Aber ich habe hier etwas für Sie.«
Sie griff in ihre Handtasche. Ein Umschlag.
»Jamals Eltern haben mir geschrieben, nachdem wir telefoniert hatten. Sie wollen die sterblichen Überreste ihres Sohnes in Gaza begraben. Sie haben mich um Hilfe gebeten. Ich tue was ich kann. Das muss ich. Aber ich bezweifle, dass es geht.«
Oskar Kärnlund sah Elina an und verzog missbilligend das Gesicht. Das hatte sie erwartet. Aber sie fand, dass ihr keine andere Wahl blieb. Sie musste es einfach versuchen.
»Das war nicht sonderlich viel«, meinte Kärnlund. »Der Cousin Sayed war im Winter 2001 in Moskau und hat sich seither in Luft aufgelöst. Ist das alles? Du hast also keine Ahnung, nicht die geringste Ahnung, ob das mit den Morden zu tun hat. Und jetzt willst du also nach Lettland fahren!«
»Ich sehe das folgendermaßen«, sagte Elina und versuchte, ihre Stimme überzeugend klingen zu lassen. »Zwei junge Menschen werden in Västerås totgeschlagen. Annika Liljas Eltern sind vollkommen verzweifelt, und ich gehe davon aus, dass Jamals Eltern genauso empfinden. Die einzige Antwort, die wir ihnen gegeben haben, ist, dass eine Person mit einem arabischen Namen nach Schweden eingereist ist, ihre Kinder erschlagen hat und dann wieder wie ein Schatten verschwunden ist. Für die Eltern kann das nicht ausreichen, egal, ob es jetzt wahr ist oder nicht. Wir müssen mehr unternehmen.«
»Okay, Wiik. Lass uns annehmen, dass sich die Sicherheitspolizei irrt. Wer war dann der Täter?«
»Vielleicht einer der Schleuser? Der sein Geld nicht bekommen hatte. Beispielsweise könnte es so ausgesehen
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