Elina Wiik - 03 - Der tote Winkel
jetzt nicht weitermache, dann war die Reise nach Lettland umsonst.«
»Genau, das war sie auch. Umsonst. Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätte sie nie stattgefunden.«
Elina erhob sich und ging zur Tür. Jönsson hielt sie auf halbem Weg auf.
»Du bist eine gute Ermittlerin, Wiik, aber unerfahren. Mit mehr Erfahrung wirst du zwischen handfesten Spuren und wilden Mutmaßungen unterscheiden können.«
Sie trat schon auf den Gang, da hörte sie seine Stimme erneut.
»Geh die Anzeigen durch, die auf deinem Schreibtisch liegen, und teile mir morgen bei der Acht-Uhr-Besprechung mit, welche du für die wichtigsten hältst.«
Sie ging, ohne die Tür zu schließen. Mit leicht zitternden Händen zog sie ihren Bürostuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauf fallen. Auf dem Schreibtisch lagen die Anzeigen. Der Stapel wirkte größer als vor ihrer Reise.
Als sie sich beruhigt hatte, zwang sie sich zum Nachdenken. Hatte Jönsson Recht? Was sie und den Fall betraf? Vielleicht war sie wirklich nur eine unerfahrene Ermittlerin? Und ein unreifer Mensch, der mit Rückschlägen nicht fertig wurde und sich immer aufregte, wenn sich jemand benahm wie … Jönsson.
Als sie ihren ersten Mordfall in Angriff genommen hatte, den verschwundenen Vater aus Surahammar, hatte Oskar Kärnlund zu ihr gesagt, dass ehrliche, methodische polizeiliche Arbeit immer am weitesten führe. Diese Worte hatten sich ihr eingeprägt. Sagte Jönsson nicht eigentlich dasselbe? Der Unterschied zwischen Spuren und Mutmaßungen? Zwischen dem Handfesten und der reinen Annahme?
Aber Kärnlund hatte an sie geglaubt. Das tat Jönsson nicht. Kärnlund glaubte an ihre Gabe, das Unsichtbare zu sehen und das Nicht-Greifbare zu spüren. Das nannte man gemeinhin Intuition. Jönsson hielt das für weiblichen Aberglauben. Mit Kärnlund als Chef gab es für sie einen Platz. Den würde ihr Jönsson allmählich wie einen Teppich streitig machen, der einem unter den Füßen weggezogen wird. Davon war sie jetzt überzeugt. Heute hatte er die erste Gelegenheit erhalten, etwas an diesem Teppich zu ziehen. Und die hatte er sich nicht entgehen lassen.
Sie erhob sich und starrte aus dem Fenster. Die Aussicht machte niemanden froh. Der Innenhof des Präsidiums. Asphalt. Streifenwagen. Was hatte sie sich eigentlich für ein Leben ausgesucht? Ihr Gesicht spiegelte sich in der Fensterscheibe wider. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen. Tränen, obwohl sie nicht weinte.
Am Nachmittag las sie die Anzeigen. Prioritäten setzen! Aber nichts interessierte sie, in Gedanken war sie ständig bei Jamal, Sayed und Annika, bei Ahmed Qourir, bei dem Ehepaar Diederman in Ventspils und bei dem strammen Oberstleutnant Gregors Nikolajew von dem Foto.
Zerstreut blätterte sie in den Papieren. Einbruch in ein Einfamilienhaus, Körperverletzung, ein aufgebrochenes Auto, Einbruch in einen Keller, ein weiterer Einbruch in einen Keller, Exhibitionist, vermutlich derselbe arme Teufel, Handtaschendiebstahl, Fahrraddiebstahl, Einbruch in einen Keller, Diebstahl einer Brieftasche in einem Café, Wohnungseinbruch … Es würde nie ein Ende nehmen, das Begehren nach dem Eigentum der anderen. Es ließ sich nur durch die Qualität der Schlösser hemmen.
Plötzlich beugte sie sich über die Papiere. Als hätte sie mit einem Mal mehr Kraft zum Blättern in den Händen. Langsam kam ihr ein Gedanke. Sie begann von vorn und sortierte die Fälle in zwei Stapel. Schließlich war der eine Stapel fünfmal so hoch wie der andere. Sie nahm den größeren Stapel mit beiden Händen und legte ihn auf das Regal hinter sich. Dann zählte sie die übriggebliebenen. Neun Anzeigen.
Fertig. Sie wandte sich zum Fenster. Draußen war es dunkel, es war Viertel vor fünf. Sie lächelte ihr eigenes Spiegelbild an.
Jönsson, dachte sie, vielleicht fällt er ja drauf rein.
20. KAPITEL
Bereits um Viertel nach sieben war Elina am nächsten Morgen wieder im Präsidium. Sie freute sich auf diesen Tag. Sie betrachtete es von der sportlichen Seite. Sie hatte vor, zeitig Feierabend zu machen. Nadia hatte sie am Vorabend angerufen und gesagt, dass sie ab drei Uhr frei hätte. Vielleicht würden sie ja Weihnachtsgeschenke kaufen.
Um fünf vor acht kamen ihr Zweifel. Sollte sie mit John sprechen? Sich Rückendeckung holen, damit sie nicht zu weit ging? Sie entschloss sich, noch etwas damit zu warten, zumindest ein paar Tage.
Die Acht-Uhr-Besprechung war gut besucht. Alle diensthabenden Kräfte des Kriminaldezernats
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