Elixir
kaum einen geraden Satz herausbekam. Ich hatte mir über jedes einzelne Bild in der Mappe den Kopf zerbrochen und ich hielt sie für wirklich gut.
Endlich tröpfelten die Rückmeldungen herein… lauter Absagen. Hundert verschiedene Versionen von: Danke, aber wir sind ein seriöses Magazin, eine seriöse Zeitung etcetera und heuern keine Prominentenkinder an, die nur ihre Eitelkeiten befriedigen wollen.
Das saß. Ich vergrub die Mappe auf dem Dachboden und schwor, nie wieder einer Menschenseele meine Bilder zu zeigen.
Rayna gab sich nicht so leicht geschlagen. Sie buddelte das Portfolio wieder aus und verschickte es unter dem Pseudonym » Alissa Grande«. Später erzählte sie mir, dass der Name ein Insiderwitz war. Alissa bedeutet Wahrheit, Grande heißt groß– während der Name also gelogen war, war das alles nur, um eine » höhere, größere Wahrheit« zu erlangen: eine ehrliche Meinung, was meine Fähigkeiten anging.
Eine Woche, nachdem sie die Mappen verschickt hatte, bekam ich meinen ersten Auftrag und seitdem geht das am laufenden Band so. Ich werde damit nicht reich, aber ich kann Bilder machen, die wirklich von Bedeutung sind, und sie der Welt zeigen, und das ist wunderbar.
Während ich mit Rayna in Europa war, hatte Ben Alissa Grandes E-Mail, Mailbox und Postfach für mich gecheckt.
» Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte ich.
Ben überflog die Angebote. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass ich wählerisch sein konnte und nur die Jobs annehmen musste, die mich irgendwie ansprachen und natürlich mit Moms » nichts, was zu gefährlich wäre«-Regel im Einklang standen. Großes Pferderennen in Maryland? Nicht so interessant. Sechzehnjähriger Matador, der es mit sechs Stieren an einem Tag aufnahm? Sehr interessant, aber das Magazin wollte einen Artikel, der völlig unkritisch mit dem Thema Stierkampf umging, und das wiederum wollte ich nicht. Der Erfolg einer ehemals obdachlosen Frau, die ihrem Leben eine komplett neue Wendung gegeben hatte, indem sie mit Kleinstkrediten eine eigene Firma gegründet hatte? Super, ganz großes, lautes Ja!
» Das war’s schon.« Ben zuckte die Schultern und sah dann noch mal hinunter auf seine Liste, als hätte er etwas übersehen. » Oh, warte– hier ist noch eine Sache… Lust, zum Karneval nach Rio zu fahren?«
Er versuchte, keine Miene zu verziehen, doch es gelang ihm nicht ganz.
Mir fiel die Kinnlade herunter. » Machst du dich lustig über mich? JA , KLAR !!!«
Es gab eine Million Gründe, warum ich gerne zum Karneval wollte. Nicht nur, dass er eine riesige, viertägige Party ist, die man mit nichts in der Welt vergleichen kann, sondern er ist auch der Traum jedes Fotojournalisten: kunstvolle Kostüme, ausgelassenes Treiben und Massen von Leuten aus allen sozialen Schichten, die auf die Straßen strömten, um miteinander Spaß zu haben.
Außerdem gab es persönliche Gründe, warum es mich nach Brasilien zog. Seit einem Jahr wollte ich den Ort besuchen, an dem mein Vater verschwunden war, um mit den Leuten zu sprechen, mit denen er an seinen letzten Tagen zusammen gewesen war. Mom fand das zwecklos und krank. Sie hatte damals mit jedem im GloboReach-Camp bei Rio, wo Dad zuletzt gesehen wurde, Kontakt aufgenommen. An dem Tag, an dem er vermisst gemeldet worden war, hatte sie mit den Leuten dort telefoniert und war im Anschluss daran gleich selbst hingeflogen. Alle hatten ihr dasselbe gesagt: dass sein Aufenthalt im Camp genauso gewesen war wie immer. Er hatte Patienten behandelt, die anderen Ärzte beraten, Operationen beaufsichtigt und geprüft, wo es noch Verbesserungspotenzial gab. Hatten sich irgendwelche Dramen abgespielt, hatte es Ärger gegeben? Sicher doch, das gehörte in den Favelas, den Armenvierteln Rios, zum Alltag. Aber die Gewalt war nicht über das übliche Maß hinausgegangen und nichts davon hatte mit meinem Vater selbst zu tun gehabt.
Ja, er war gelegentlich alleine losgezogen und hatte niemandem gesagt, wohin er ging. Aber auch das war nichts Ungewöhnliches. Er hatte sich schon immer sehr für das Leben seiner Patienten interessiert und besuchte sie öfter auch nach ihrer Entlassung, wenn er im GloboReach-Camp war. Manchmal nahm er sich einzelne Schicksale so zu Herzen, dass er sich sogar in Ein-Mann-Missionen persönlich dafür einsetzte, bestimmten Familien oder Dörfern ein bisschen mehr Unterstützung zukommen zu lassen. Deshalb machte sich auch keiner Gedanken darüber, dass er alleine unterwegs war und sich nicht
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