Elixir
Ohne es zu wollen, wanderten meine Augen hinunter zu dem V-Ausschnitt seines blauen Button-down-Hemds und eine wilde Sekunde lang stellte ich mir vor, wie ich es aufknöpfte und mit den Fingern über seine Haut strich…
Das war verrückt. Das war Ben. Mein Freund.
Ich riss die Augen von seiner Brust los und sah in sein Gesicht, aber es war anders als das Gesicht, das ich kannte. Er wirkte ernst und auf eine Art selbstsicher, wie ich es an ihm noch nie gesehen hatte. Es gefiel mir. Er hob die Hand und strich mir die Haare hinters Ohr. Hatte er das jemals zuvor getan? Nein. Es fühlte sich wunderschön an.
» Clea«, sagte er noch einmal, diesmal sanfter. » Es gibt da etwas, was ich dir sagen will–«
» WUUUUUUUU !!!!!!!«
Es war ein Überfall der Studenten, die ich zuvor fotografiert hatte. Sie stürmten den Strand entlang und die Leute wichen hastig vor ihnen zurück. Ben und ich ebenfalls, doch wir wurden getrennt, als die Kerle überall um uns herumschwärmten und wie wild zur Musik unseres Trommlers zu tanzen begannen.
» Ben?«, rief ich. Zwischen all den Leuten konnte ich ihn nicht mehr sehen.
» Clea?«
Er klang ziemlich weit weg. Ich arbeitete mich durch die Menge.
» Ben!«
» Clea!«
Schon besser. Seine Stimme war jetzt näher. Ich spähte durch die Lücken in der Menschenmenge und stellte mich auf die Zehenspitzen, um ihn zu sehen…
…als ich plötzlich erstarrte und die ganze Welt mit kreischenden Bremsen zum Stillstand kam.
Der Mann aus meinen Träumen– er war mit uns am Strand.
sechs
»Clea!«, rief Ben, als er sich zwischen den Tanzenden hindurchdrängte und endlich vor mir stand.
Ich sah ihn nicht einmal an. Mein Blick war auf einen Punkt etwa fünfzehn Meter entfernt gerichtet, wo der Mann ganz allein stand und mit zusammengekniffenen Augen in den Sand starrte, als würde er dort etwas suchen.
Er trug Jeans, eine Lederjacke und ein graues T-Shirt.
Plötzlich hob er den Kopf und sah mich direkt an. Es war das Gesicht, das ich kannte wie mein eigenes, und ich sah, wie seine Augen sich vor Schreck weiteten, genau wie die meinen.
Dann drehte er sich um und floh den Strand hinunter.
» NEIN !«, schrie ich und rannte ihm ohne Zögern hinterher.
» Clea?«, rief Ben, doch ich hörte ihn kaum. Ich hatte nur noch Augen für den Mann. Ich musste ihn aufhalten, musste ihn einholen, ehe er außer Sichtweite war.
Er war schnell, aber ich auch. Auf dem Laufband schaffte ich locker einen Kilometer in vier Minuten und dank Krav Maga hatte ich eine gute Ausdauer. Ich jagte ihn über den Strand der Copacabana, wich vereinzelten Grüppchen von Feiernden aus und flitzte weiter.
Der Mann hielt nicht an, als er den Leme Hill erreichte, den von Buschwerk überwucherten Berg am Nordende des Strands, sondern tauchte in vollem Lauf in die dichte Vegetation ein. Er mied den gerodeten Weg und schlug sich stattdessen in den Schutz des wild wuchernden Unterholzes. Ich folgte ihm, ohne zu zögern, obwohl ich meine Schuhe weit hinter mir gelassen hatte. Jetzt war er im Vorteil und schnell hatte ich ihn aus den Augen verloren, doch er hinterließ einen Pfad zertrampelter Pflanzen und ich pflügte ihm nach, laut keuchend, als ich versuchte, das Tempo wieder anzuziehen.
Ich sah die knorrigen Wurzeln nicht. In einer Sekunde rannte ich noch, so schnell ich konnte, in der nächsten schrie ich auf, als ein stechender Schmerz meinen Knöchel durchzuckte und ich kopfüber im Gestrüpp landete.
» NEIN !!!«, schrie ich, mehr aus Frust darüber, dass er mir entkommen war, als wegen der Verletzung, die ich mir zugezogen hatte. Ich versuchte aufzustehen, doch mein linker Knöchel konnte mein Gewicht nicht tragen und ich plumpste wieder auf den Boden.
» Shit!«, fluchte ich und drehte mich ein wenig, um meinen rapide anschwellenden Knöchel zu untersuchen. » Mist-Mist-Mist- MIST !«
Ich versuchte noch einmal, mich aufzurappeln, diesmal vorsichtiger, aber es ging nicht und ich sank wieder zusammen. Wütend schlug ich mit der Hand auf den Boden.
Na toll. Ich war ganz allein am Ende der Welt mit einem verstauchten Fuß, außerstande auch nur einen Schritt zu tun. Plötzlich überwältigte mich das Gefühl der Niederlage mit aller Macht und alles stürmte auf mich ein: der Verlust meines Vaters, die Albträume, die anderen Träume, die Geheimnisse, der Schmerz und die Müdigkeit. Am liebsten wäre ich wieder sechs Jahre alt gewesen und hätte mich in meinem Bett zusammengerollt und Mami und Papi sollten mich
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