Ella und das große Rennen
lief ein Fließband, auf dem fertig beladene Tabletts mit Essen standen. Neuankömmlinge standen vor dem Fließband Schlange, nahmen sich eins von den Tabletts und suchten sich einen freien Platz. Vor unglaublich vielen Tischen saßen Tausende kauende, mümmelnde, wiederkäuende, mit den Kiefern mahlende, schmatzende Kinder. Schon beim Anblick kriegte man Bauchweh, aber das Schlimmste war die Luft. Über allem lag ein eigenartiger Geruch. Es war, als hätte jemand gleichzeitig gedämpften Kohl, gebratenen Hering und Leberauflauf zubereitet. Und genauso sah das Essen auf den Tabletts auch aus. Ich war nah dran, in das Notfallhorn zu blasen. Vielleicht hätte ich es sogar gemacht, wenn Anna nicht von allein aufgetaucht wäre. Wir hatten gerade Plätze bei den großen Fenstern gefunden.
»Esst das nicht, wenn ihr nicht krank werden wollt!«, warnte uns Anna.
»Ich werde es auf jeden Fall essen. Schulessen ist gesund«, sagte Tiina und stach mit der Gabel in einen unappetitlichen grauen Klops. Wenigstens zuckte er nicht, aber die Gabel blieb drin stecken und war auch nicht mehr rauszukriegen, egal was Tiina versuchte. Schließlich gab sie es auf und schob das Tablett beiseite.
»Wir nennen sie fiese Klopse«, erklärte Anna. »Es heißt, man kann damit auch Autokühler dichten und Panzerketten flicken. Und in der Wüste halten sie angeblich die Wölfe fern.«
»Lecker«, sagte Pekka. »Samstags, wenn mein Vater kocht, gibt’s bei uns so was Ähnliches.«
Außer Pekka rührte trotzdem keiner das Essen an. Wir steckten nur alle unsere fiesen Klopse ein, weil Anna meinte, dass wir sie vielleicht noch brauchen könnten. Sie hatte zum Glück auch was zu essen mitgebracht.
»Da«, sagte sie. »Esst das, dann haltet ihr’s hier aus.«
Sie hatte ein Stück Tuch zu einem Bündel geschnürt, das legte sie jetzt auf den Tisch und knotete es vorsichtig auf. In dem Bündel waren Eicheln, Hagebutten und dunkle Pilze.
»Alle aus dem Wald hinter dem Schulhof«, sagte Anna. »Ich empfehle euch, auch bald mit dem Sammeln anzufangen. Der richtige Schnee kann jeden Tag kommen, und ihr werdet Wintervorräte brauchen.«
Wir knabberten Eicheln und Hagebutten. Die Pilze traute sich nur Anna zu essen. Angeblich war es eine Sorte, die man roh essen kann. Aber wir hatten sowieso keinen großen Hunger. Der Appetit war uns längst vergangen. Das heißt, Pekka nicht. Er futterte das Schulessen und Annas Leckereien noch dazu.
»Wo ist eigentlich
der eine
?«, fragte ich, weil ich nirgends einen roten Overall entdecken konnte.
Statt zu antworten, zeigte Anna auf ein riesengroßes rotes Wohnmobil, das auf dem Schulhof parkte. Auf der Seite des Wohnmobils stand mit goldener Schrift »Kimi Yksi«. Und darunter »Motorhome«. Das Auto war so über den fest aufs Pflaster gemalten Himmel-und-Hölle-Kästchen geparkt, dass man sie nicht benutzen konnte.
»Er hat seine eigenen Köche, die ihm mittags ein Drei-Gänge-Menu zubereiten«, sagte Anna. »Nichts soll seine Konzentration stören.«
»Seine Konzentration auf was?«, fragte ich.
»Auf die Rundenzeiten«, sagte Anna. »Die Hauptaufgabe der Formel-1-Fahrer besteht darin, ihre Rundenzeiten zu verbessern. Wenn sie nicht in Ruhe essen können, leiden ihre Rundenzeiten.«
»Das Leben der Formel-1-Fahrer ist so wunderbar«, sagte ich, und das meinte ich wirklich. Ich fand es toll, dass sich jemand schon in so frühen Jahren auf die wirklich wichtigen Dinge wie Rundenzeiten konzentrieren konnte.
Jetzt gerade umringte eine Gruppe Schüler das Wohnmobil. Sie standen still im Halbkreis, als würden sie auf etwas warten. Erst dachte ich, es wären vielleicht Fans, aber dann ging die Tür des Wohnmobils auf, und ein Kellner im Frack trat ins Freie. Er trug einen halb vollen Teller mit Essen, den er neben der kleinen Treppe, die zur Tür hinaufführte, auf den Boden stellte. Die Schülermeute stürzte sich darauf wie ein Schwarm hungriger Piranhas.
»Ein Wohltäter ist er nämlich auch noch!«, schnaubte Anna.
Dann ging die Tür des Wohnmobils ein zweites Mal auf, und diesmal war es eine vertraute Gestalt im roten Overall, die ins Freie trat. Kimi. Er blieb auf der obersten Stufe der kleinen Treppe stehen. Und genau da durchbrach einer der seltenen Novembersonnenstrahlen die graue Wolkendecke und traf haarscharf das Abzeichen auf Kimis Kappe. Es leuchtete auf, und mein Herz machte einen Sprung. Was heißt Sprung – so musste es sich anfühlen, wenn ein Nilpferd über einen
Weitere Kostenlose Bücher