Ellin
zu umschiffen. Sie würden wie eine Nussschale an den Felsen zerschellen.«
Ellin betrachtete die im Wasser schaukelnden Boote und fragte sich, wie mächtig ein Schiff wohl sein musste, um das Große Wasser zu überqueren.
Die Menschen am Strand hielten inne, wenn sie vorbeiliefen, doch niemand sprach sie an. Da sie in Nähe der Behausungen und Siedlungen kaum Muscheln fanden, bettelten sie die Fischersfrauen an, die mit überkreuzten Beinen vor den Hütten saßen und die Fangnetze flickten, Fische ausnahmen oder Wäsche wuschen. Halbnackte Kinder rannten umher, gefolgt von dicken, pelzigen Tieren mit flossenartigen Beinen. Die Männer werkelten an ihren Booten, schleiften und fetteten Angelhaken und Messer oder lagen auf den Planken und hielten ein Nickerchen. Wenn sie Ellin und Yasu erblickten, hielten sie inne und musterten die beiden Frauen. Manche riefen ihnen einen freundlichen Gruß zu, andere machten zweideutige Angebote.
»Sie warten auf das Ansteigen des Wassers, damit sie hinausfahren können«, erklärte Yasu, während sie ein Tuch um ihr Haupt schlang, um die Haarstoppeln zu verbergen. Das Sklavenband an ihren Hals hatte sie schon im Wald abgenommen, doch das Brandmal, das sie lebenslang als Sklavin kennzeichnete, ließ sich nicht so leicht verbergen. Die meisten Fischersfrauen behandelten Ellin und Yasu abweisend und jagten sie davon. Nur eine erbarmte sich ihrer und schenkte ihnen eine Handvoll winziger Fische und einen Gerstfladen. Yasu ignorierte das Verhalten der Männer und deren Frauen, doch Ellin fiel es schwer, so zu tun, als machten ihr die Worte nichts aus. Sie war froh, als sie eine Mahlzeit beisammenhatten und sich von den Hütten entfernen konnten. Die Fische waren nicht besonders ergiebig, doch in Verbindung mit dem Gerstfladen und ein wenig Muschelfleisch füllte es ihre hungrigen Bäuche.
Als sich die Dunkelheit herabsenkte, bereiteten sie ein Nachtlager hinter einer Düne, so weit wie möglich von den Hütten entfernt, doch in Sichtweite. Das stetige Rauschen der Wellen wiegte sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst spät am nächsten Morgen erwachten. Ellin erschrak, als sie die Augen aufschlug und in die Gesichter mehrerer Kinder blickte, die sie lachend betrachteten. Hastig rafften sie ihre Sachen zusammen und setzten ihren Weg fort. Wenig später hielten sie inne, zogen ihre Kleider aus und wuschen sich im Großen Wasser. Vor ihnen ragte ein beeindruckendes Felsmassiv bis weit in das Wasser hinaus. Wie eine natürliche Grenze trennte es die Dünen von der dahinter liegenden Halbinsel.
Yasu deutete auf einen entfernten Punkt hinter dem Felsen. »Dort liegt Kismahelia.«
Ellin kämmte ihre verknoteten Haare, während Yasu Fleisch aus Muscheln pulte und es auf Stöcke spießte. Nach dem Essen zogen sie frische Kleidung an und richteten einander so gut wie möglich her. Yasu drapierte ein Tuch so um ihren Kopf, dass es auch den Hals verbarg. Dann begannen sie, das Felsmassiv zu umrunden.
»Wir müssen uns beeilen«, mahnte Yasu. »Sonst schließen sie das Tor.«
Kurz vor der Abenddämmerung tauchte die Stadtmauer vor ihnen auf. Im Gegensatz zu Huanaco war Kismahelia vollständig von einer drei Mann hohen Sandsteinmauer eingefasst. Geschützt durch das Große Wasser auf der einen und dem Felsmassiv auf der anderen Seite, war es Angreifern fast unmöglich, sich der Stadt unbemerkt zu nähern.
So sehr sie sich auch anstrengte, es gelang Ellin nicht, die Größe der Stadt zu erfassen. Schier endlos zog sie sich über die gesamte Halbinsel bis weit in das Landesinnere hinein. In der Ferne ragte ein hoher Turm über der Mauer empor bis in den Himmel hinauf, genau wie der, den sie einst in ihrem Traum gesehen hatte. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus.
Hast du ihn getötet ? Noch immer hallten die Worte in ihrem Kopf und erinnerten sie an den seltsamen Traum. Konnte es ein Zufall sein, dass sie von Kylian, Nosara und diesem Turm geträumt hatte, bevor sie ihnen überhaupt begegnet war? Handelte es sich bei dem Traum vielleicht gar nicht um einen Traum, sondern um eine Vision? Ein Vorbote des Kommenden? Doch auch wenn es sich um eine Vision gehandelt hatte, vermochte sie nicht, sie zu deuten und für Umkehr war es sowieso zu spät. Sie musste ihrem Schicksal folgen, konnte gar nichts anderes tun. Es gab kein Zurück.
Das Stadttor stand offen. Die Wachen ließen sie unbehelligt passieren. Kaum dass sie Kismahelia betreten hatten, blickte Yasu sich nervös um.
»Hast du
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