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Ellin

Ellin

Titel: Ellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
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trieben ihr Tränen in die Augen und entlockten ihr ein weiteres Stöhnen. Vorsichtig griff sie an ihr Nasenbein und betastete es. Die Haut war geschwollen und empfindlich, doch die Nase schien nicht gebrochen zu sein.
    Die Erinnerung kehrte zurück und mit ihr die Angst. Sie hatte gestohlen und war erwischt worden. Welche Strafe wartete nun auf sie? Auf der Felsenfestung wurde ein Dieb entweder ausgepeitscht oder ihm wurden ein oder mehrere Finger gebrochen oder abgeschlagen, je nach Schwere der Tat. Anschließend sperrte man ihn so lange in den Kerker, bis der Bestohlene entschied, dass der Gerechtigkeit genüge getan worden war. Wie schwer wog der Diebstahl von Äpfeln und Trockenfleisch?
    Leise fluchend setzte sie sich auf. Der erwartete Schwindel blieb aus, allerdings fing ihr Magen wieder an, zu knurren. Aufgrund der vollkommenen Dunkelheit um sie herum nahm sie an, dass es tiefe Nacht war. Nur durch eine kleine Öffnung in der Tür fiel ein winziger Lichtschimmer. Sie lauschte. Nicht weit entfernt raschelte es, jemand oder etwas schabte über das Riedgras.
    »Hallo?«, flüsterte sie. »Ist da jemand?«
    Niemand antwortete. Vorsichtig erhob sie sich und tastete sich an der Wand entlang. Ihr Fuß stieß schmerzhaft gegen einen Bottich. Sie beugte sich hinab und befühlte das Gefäß. Uringestank wallte ihr entgegen. Trotz ihres Ekels nutzte sie die Gelegenheit und verrichtete ihre Notdurft, bevor sie ihren blinden Weg fort, bis sie zu der schmalen Tür gelangte. Dort hielt sie einen Moment inne, befühlte die Furchen und Risse im Holz und versuchte, durch die Öffnung nach draußen zu blicken. Sie erspähte einen düsteren, von einer Öllampe erhellten Flur mit so niedriger Decke, dass ein großer Mann den Kopf einziehen musste, um ihn zu durchqueren.
    »Hallo? Ist da jemand?«, rief sie. Alles blieb still. Sie hob den Arm, sofort berührte ihre Hand die Decke. Vorsichtig tastete sie sich weiter vor, bis ihre Füße gegen etwas Weiches stießen. Sie ging in die Knie und griff danach. Das raue Tuch ihres Bündels erkannte sie sofort. Blind suchte sie nach der Öffnung, zog die Schnur auf und steckte eine Hand in das Innere. Am Boden befand sich ein geheimer Spalt, in den sie die gesparten Prasis eingenäht hatte. Die Münzen waren noch da. Erleichtert befühlte sie die holprigen Ränder, zog dann ein dünnes Tuch und den Trinkschlauch heraus und nahm das Bündel an sich. Den modrigen Riedgrashaufen ignorierend wickelte sie sich in das Tuch, setzte sich auf den Boden und trank einen Schluck Wasser. So saß sie teilnahmslos und stumm und wartete auf den Morgen.
    Sonnenstrahlen fielen durch die schmalen Ritzen im Mauerwerk wie Speere aus Licht und tauchten den Kerker in staubige Helligkeit. Eine schemenhafte Gestalt öffnete die Tür und schob eine Schale hinein. Ellin musterte sie gleichgültig. Trotz ihres Desinteresses knurrte ihr Magen laut, ihr Appetit regte sich.
    Sie kroch auf die Schale zu, nahm sie zur Hand und prüfte den Inhalt. Ein Gerstfladen und eine muffig riechende Fischsuppe. Ehe sie sich versah, hatte sie den halben Gerstfladen in den Mund gestopft, kaute ihn gierig, und spülte ihn mit einem großen Schluck Suppe runter, die wider Erwarten genießbar war. Nachdem sie ihr karges Mahl verschlungen hatte, trank sie etwas Wasser und lehnte sich gegen die Mauer. Der Tag verging quälend langsam. Ab und an vernahm sie Stimmen, ein Lachen, das Rücken von Stühlen. Türen wurden geöffnet und wieder geschlossen. Der Duft von gebratenem Fleisch drang in ihre Nase, doch niemals sah jemand nach ihr. Als das trübe Licht des Kerkers schwand, wurde die Tür erneut geöffnet und eine weitere Schale hineingeschoben.
    »Bitte wartet«, rief Ellin, doch die Tür fiel ins Schloss, bevor sie auch nur die Möglichkeit hatte, sich zu erheben.
    Sie aß das verkochte, nach altem Fett schmeckende Gemüse und erlaubte sich, ein paar Tränen zu vergießen, bevor sie wieder in dumpfe Lethargie verfiel. Stunden später vernahm sie leise Stimmen und sich nähernde Schritte. Die Tür wurde geöffnet.
    »Besuch«, knurrte eine männliche Stimme.
    »Ellin?« Yasu betrat den Kerker.
    Ellin erhob sich, eilte auf ihre Freundin zu und umarmte sie. »Oh Yasu. Ich bin so froh, dass du gekommen bist. Geht es dir gut?«
    Yasu nickte und ergriff ihre Hände. »Man hat mir gesagt, dass du gestohlen hast. Warum hast du das getan?«
    »Ich weiß nicht warum, es ist einfach geschehen. Ich hatte so schrecklichen Hunger.« Beschämt senkte

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