Ellin
menschenähnliche Wesen erblickte, eher ein unbewusstes Wissen um ihre Gegenwart, das Erahnen aufmerksamer Blicke, die ihnen überallhin zu folgen schienen. Das Gefühl war mittlerweile so übermächtig, dass sie bei jedem Knacken oder Rascheln zusammenzuckte und mit pochendem Herzen den Wald absuchte. Manchmal glaubte sie, Augen zu sehen, die sie betrachteten, ein Stück Haut, braun wie Baumrinde, mit grüner Bemalung oder eine Hand, die das Dickicht zerteilte, doch sicher war sie nie. Es könnten ebenso gut auch Trugbilder gewesen sein, welche ihr angespanntes Gemüt ihr vorgaukelten.
»Was meinst du, wie lange müssen wir noch diesen furchtbaren Wald durchwandern?«, fragte Ellin.
Yasu zuckte mit den Schultern. »Als ich nach Huanaco gebracht wurde, hat es drei Nächte gedauert, bis wir den Wald durchquert hatten, doch da wir wesentlich langsamer sind und auch nicht genau wissen, welcher Pfad der richtige ist, gehe ich davon aus, dass wir etwas länger brauchen werden.«
Ellin seufzte. Im Grunde war es egal, wie lange sie brauchten, sie hatten sowieso kein Ziel. Trotzdem wollte sie diesen Dschungel endlich hinter sich lassen.
»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte Yasu in ihre Grübeleien hinein. »Warum gehen wir nicht nach Tuipan?«
»Was ist das?«
»Das ist die Insel, auf der ich geboren wurde.«
Ellin begann, an ihrer Unterlippe zu nagen. »Und wie gelangen wir dahin?«
»Wir müssten zuerst nach Kismahelia und dort eine Überfahrt finden.«
Eine Insel war gut. Auf einer Insel würde Lord Wolfhard sie als Letztes suchen, vor allem da er eine tiefe Abneigung gegen Schiffe hegte. Weder konnte er schwimmen, noch vertraute er schwankenden Booten. »Die Idee ist gut. Ich bin der Meinung, wir sollten es versuchen«, stimmte sie zu.
Immerhin hatten sie nun ein Ziel, was gut war. Nicht gut war, dass ihre Vorräte zuneige gingen. Trotz der üppigen Vegetation gestaltete sich das Finden von Essbarem schwierig, denn weder Ellin noch Yasu kannten sich mit den Wurzeln, Kräutern und Knollen Huanacos aus. Nur selten fanden sie vertraute Gewächse. Eines Morgens fingen sie ein Tier, welches Ähnlichkeit mit dem vecktanischen Waldhorn hatte und beschlossen, es zu probieren. Zu Ellins Freude schmeckte es auch so.
Am folgenden Tag gelangten sie zu einer der Plattformen. Hinter einem Gebüsch versteckt warteten sie, bis die Nacht hereingebrochen war, und kletterten anschließend hinauf. Im Vergleich zu ihren bisherigen Schlafplätzen war sie recht bequem. Sie konnten mit ausgestreckten Beinen schlafen und dank des Feuers, das sie in der Feuerschale entzündeten, blieben sie von krabbelndem und fliegendem Getier weitestgehend verschont.
Am Morgen wurden sie von Stimmen geweckt. Die Sonnen standen hoch am Himmel, sie hatten lange geschlafen. Zu lange. Durch das Dickicht war nicht zu erkennen, wer den Pfad entlangkam. Hastig stopften sie ihre Sachen in die Bündel, kletterten von der Plattform hinab und versteckten sich zwischen den Wurzeln eines riesigen Mamonbaumes. Keinen Augenblick zu früh, denn schon betrat die Gruppe die Lichtung. Erleichtert nahm Ellin zur Kenntnis, dass es sich um einen Händlertrupp handelte, der ohne innezuhalten vorüberzog. Sobald der Trupp außer Hörweite war, krochen sie wieder hervor und setzten ihren Weg fort.
»Es kann nicht mehr weit sein«, sagte Yasu.
»Woraus schließt du das?«, fragte Ellin. Ihr Magen knurrte vernehmlich. Wehmütig dachte sie an die leckeren Speisen im Palast zurück.
»Es geht schon seit längerem nicht mehr bergab.«
Ellin freute sich auf das Ende der grünen Hölle. Kismahelia war ein weites und trockenes Land, hatte Yasu erzählt, und sicher einfacher zu durchqueren als die dicht bewaldeten Hügel Huanacos.
Im Laufe des Tages veränderte sich der Wald dramatisch. Die mächtigen Mamonbäume mit den riesigen Wurzeln verschwanden, die Vegetation dünnte aus und der Boden ebnete sich. Am Abend erreichten sie eine weite Grasfläche, auf der nur noch kleinere Bäume und Sträucher wuchsen. Da die Dunkelheit nahte, beschlossen sie, ihr Nachtlager auf einem Baum am Waldrand aufzuschlagen. Ellin lehnte sich gegen einen Ast und betrachtete den Nordstern. Ihr achtzehnter Namenstag war vorübergezogen, ohne dass sie es bewusst wahrgenommen hatte. Zum ersten Mal seit ihrer Flucht dachte sie intensiv an Kylian. Solange sie noch in Huanaco weilte, hatte sie sicher sein können, ihn eines Tages wiederzusehen. Doch nun war sie auf dem Weg in ein weit entferntes Land
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