Ellin
balancierte ihn über den schmalen Steg an Bord des Schiffes. Immer wieder sah er nach Ellin, die neben den Körben stand und ihn anlächelte. Er errötete, stolperte und fiel die Stufen hinab. Die Mirabeeren kullerten über die Planken. Es gab Gelächter und Geschrei, ein dicker, glatzköpfiger Mann eilte herbei, das Gesicht vor Zorn gerötet. »Du elender Tölpel«, schrie er und schlug mit einem schmalen Stock auf den armen Jungen ein.
Niemand beachtete Ellin. Der Duft von frischgebackenen Gerstfladen wehte in ihre Nase und ließ ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen.
Ohne zu überlegen schnappte sie einen Strang Trockenfleisch und ein paar Äpfel und stapfte davon.
»He du«, rief jemand hinter ihr. »Bleib stehen, du diebische Aasmeise.«
Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie hatte Essen gestohlen! Wieso hatte sie Essen gestohlen? Jemand packte sie an der Schulter und hielt sie fest. Sie versuchte, sich loszureißen, doch schon griff eine weitere Hand nach ihr.
»Halt ein, Weib«, sagte die Frau, die Ellins Arm umklammert hielt. Sie war groß, kräftig wie ein Mann und hatte ein braunes, wettergegerbtes Gesicht.
Die Äpfel purzelten zu Boden. »Bitte lasst mich«, flehte Ellin. »Es war nicht meine Absicht, zu stehlen.«
»Das kannst du dem Büttel erzählen«, sagte ein hagerer Mann zu ihrer Rechten.
Panik stieg in ihr empor. »Ich bezahle die Waren«, bot sie an und griff mit der freien Hand nach ihrem Bündel. »Ich habe Prasis, bitte.«
Panisch blickte sie sich um. Menschen blieben stehen und beobachteten die Szene, deuteten auf sie, tuschelten und lachten hämisch.
»Das hättest du anbieten sollen, bevor du unser Essen stiehlst«, sagte die Frau und zerrte sie den Weg entlang Richtung eines flachen, fensterlosen Gebäudes, welches sich am Ende des Hafenbeckens befand. Eine Menschentraube folgte ihnen, lachte über die zappelnde Ellin, die verzweifelt versuchte, sich aus dem Griff ihrer Häscher zu winden.
Je näher sie dem Gebäude kamen, umso unbändiger wehrte sie sich. Sie schimpfte und flehte und schließlich gelang es ihr, einen Arm aus dem festen Griff zu lösen.
»Jetzt reicht es«, sagte die Frau und das Letzte, was Ellin sah, war die Faust, die auf ihr Gesicht zuraste. Dann wurde alles dunkel.
»Ihr habt mich bestohlen!« Ihre Stimme klingt ungewohnt hart und kalt.
Lord Wolfhard tritt auf sie zu und blickt sie herablassend an. »Nichts habe ich gestohlen, elender Bastard. Es gehört mir. Ich bin der Herr von Veckta.«
Ganz alleine steht sie vor ihm und verlangt nach ihrem Recht. Sie müsste Angst haben, doch sie ist völlig ruhig.
»Ihr seid ein Mörder und ein Dieb, Wolfhard, und ich werde dafür sorgen, dass Ihr Eure gerechte Strafe erhaltet«, sagt sie.
Höhnisch lachend greift er nach einem Dolch auf dem Tisch.
»Ich werde dir eigenhändig die Haut vom Leib ziehen, du vorlaute Hure.«
Sie stemmt die Arme in die Hüfte, sieht ihn herausfordernd an. »Ich warne Euch, gebt mir, was mir gehört.«
»Du warnst mich? Du?« Lord Wolfhard lacht so laut, dass sein Wanst wackelt. Dann wird er plötzlich ernst und tritt so nah an sie heran, dass sie die Poren in seiner Haut sehen kann. »Du bist tot, verfluchtes Weib«, zischt er und sticht zu. Die Klinge bohrt sich durch ihre Haut, dringt in ihren Leib. Sie wartet auf den Schmerz, doch er bleibt aus. Ihre Augen wandern nach unten. Tief steckt die Klinge in ihrem Bauch, nur das Heft schaut noch heraus. Sie fühlt das kühle Metall, glatt und schwer. Sie müsste bluten, doch sie blutet nicht. Kein einziger Tropfen rinnt aus ihr heraus.
Das ist nicht mein Leib, denkt sie, das bin ich nicht.
Sie blickt auf, sieht Lord Wolfhard an. Er wirkt verwirrt und überrascht. Eine seltsame Kälte erfasst ihren Körper, kriecht ihre Beine hinauf wie eine Schlange aus Eis. Erschrocken blickt sie an sich hinab. Ihre Haut verblasst, wird durchscheinend, wie gewalktes Fenn. Die Klinge rutscht aus ihrem Bauch und fällt zu Boden. Kein Blut.
Lord Wolfhards entsetzter Blick ist das Letzte, was sie sieht, während sich ihr Körper in bleichen Rauch wandelt und vergeht.
Sie erwachte stöhnend aus einem seltsamen Traum und blickte sich verwirrt um. Um sie herum war es dunkel und still und es roch durchdringend nach menschlichen Ausdünstungen und faulendem Gras. Wo war sie? Vorsichtig tastete sie ihre Umgebung ab. Sie lag auf einem dünnen Haufen Riedgras, darunter kalter Stein und Sand.
Hämmernde Kopfschmerzen und ein scharfes Stechen hinter der Stirn
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