Ellin
Angst?«, fragte Ellin.
Yasu verzog das Gesicht. »Ein wenig. Ich befürchte, dass mich jemand erkennt und ich wieder in Fortas’ Hände gerate.«
»Ist er ein ebenso grausamer Herr wie Lord Wolfhard?«
Yasu schüttelte den Kopf. »Nein, aber er ist sicher nicht erfreut, wenn er erfährt, dass das Geschenk an seine Schwester geflohen ist.«
Ellin ergriff Yasus Hand, drückte sie beruhigend und blickte sich um. Die Häuser standen dicht beieinander, nur die wenigsten verfügten über einen Hof oder Garten. Was in Huanaco der Kampf gegen den wuchernden Urwald war, war in Kismahelia der Kampf gegen den Sand. An den Mauerecken der Häuser erhoben sich kleine Sandverwehungen, und wenn man Luft holte, schien man immer auch ein paar Körnchen einzuatmen. Selbst die Menschen wirkten staubig und hell. Wie die Bürger Huanacos trugen sie Kleidung in allen Schattierungen von Weiß, doch ihre Häupter verbargen sie unter langen Tüchern, die sie mit Lederriemen oder geflochtenen Bändern um ihren Kopf geschlungen hatten. Für Yasu war das von Vorteil, denn so fiel ihr verhülltes Haupt nicht auf. Die meisten Menschen liefen barfuß, was sich auch Ellin und Yasu in den letzten Tagen angewöhnt hatten. Sand in den Schuhen rieb an den Füßen.
»Wir müssen etwas zu essen und einen Schlafplatz finden«, sagte Ellin. »Hast du einen Vorschlag?«
Yasu deutete die Straße hinab Richtung Wasser. »Wir könnten am Hafen unter einem Bootssteg schlafen. Wo wir etwas zu essen herbekommen sollen, ist mir allerdings ein Rätsel.«
In Hafennähe passierten sie einen Markt, dessen Händler in Begriff waren, ihre Stände zusammenzupacken. Die große Sonne schob sich bereits hinter den Nordstern und tauchte die Stadt in ein weiches, goldenes Licht. Ellin trat auf eine Obsthändlerin zu und bat um angeschlagene Reste. Seltsamerweise fiel ihr das Betteln in der Stadt um einiges schwerer als bei der Karawane oder den Fischerhütten am Strand. Die Händlerin sah sie nur abfällig an und schüttelte ihre Zöpfe. Trotz der Niederlage, zwang Ellin sich dazu, es beim nächsten Händler zu versuchen, doch auch bei ihm gingen sie leer aus.
»Wenn Ihr keine Prasis habt, müsst ihr Euch welche verdienen«, sagte er.
»Das würden wir gerne«, erwiderte Ellin. »Aber wie?«
Er grinste. »Zwei hübschen Dingern wie Euch sollte das doch nicht allzu schwer fallen.«
Yasu zog an Ellins Arm. »Hör nicht auf ihn, lass uns einfach weitergehen.«
Nach den Worten des Händlers wagten sie nicht mehr, um Essen zu betteln. Hungrig und müde schlenderten sie am Hafen entlang und suchten nach einem Unterschlupf. Schließlich legten sie sich neben den Rumpf eines Schiffswracks, welches an den Strand gespült worden war und versuchten, trotz ihrer knurrenden Mägen, einzuschlafen. Die Nacht verlief relativ ruhig. Hin und wieder torkelten betrunkene Seeleute an ihnen vorbei, grölten schmutzige Lieder und schreckten sie mit ihrem dissonanten Gesang aus dem Schlaf. Doch die Männer bemerkten die beiden Frauen nicht, die tief im Schatten des Schiffswracks kauerten. Kurz vor Morgengrauen erhoben sie sich mit steifen Gliedern, strichen ihre Kleider glatt, setzten sich an die Hafenmole und warteten auf den anbrechenden Tag.
Sobald die Stadt zum Leben erwachte, begannen sie, sich nach einer Überfahrt zu erkundigen, mit wenig Erfolg. Bei den meisten Schiffen, die zu den Inseln segelten, handelte es sich um Sklavenschiffe, in denen Ellin und Yasu jedoch keinesfalls reisen wollten. Schließlich beschlossen sie, sich aufzuteilen und sich direkt bei den Schiffskapitänen nach ihrer Fahrtroute zu erkundigen und um eine Überfahrt zu bitten. Der Hunger machte Ellin schwindelig und sie musste sich immer öfter abstützen oder ausruhen, um wieder zu Kräften zu kommen. Fast war sie versucht, etwas zu Essen zu kaufen, doch da sie die wenigen Prasis, die sie besaß, für die Bezahlung der Überfahrt benötigte, verwehrte sie sich diese Schwäche. Bevor sie nicht am Verhungern war, würde sie nichts von ihrem Ersparten ausgeben. Sie erspähte ein Schiff, welches soeben mit riesigen Körben, Kisten und Käfigen beladen wurde, in denen sich Obst, Trockenfleisch, Gemüse und allerlei lebende Tiere befanden. Bei dem Anblick wurde ihr erneut schwindlig und ihr Magen knurrte so laut, dass sie sicher war, dass es jeder im Umkreis eines Doppelschrittes hören konnte. Beschämt sah sie sich um. Niemand beachtete sie. Ein junger Bursche schnappte sich einen Korb Mirabeeren und
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