Ellin
trostlose Wirklichkeit.
Ihre Augen öffneten sich. Weit und klar war ihr Blick, den sie nun umherschweifen ließ. Es war Tag und sie befand sich nicht mehr in der Höhle, nicht einmal mehr in Nähe der Schwarzen Leere, soweit sie das beurteilen konnte. Sie lag im Schatten einer mächtigen Hebeleiche. Ein laues Lüftchen wehte über sie hinweg. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Und wie war sie hierhergelangt? Sie drehte den Kopf und blickte sich um. Kylian lag zwei Doppelschritte entfernt. Er wirkte blass und hielt die Augen geschlossen, doch seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig. Nuelia saß neben ihm und füllte seinen Wasserschlauch auf.
»Ellin, du bist wach«, stellte sie fest. »Wie fühlst du dich?«
Ellin räusperte sich. »Durstig. Wo sind wir?« Ihre Stimme hörte sich rau und fremd an.
»In den Hügeln von Thal. Sie grenzen an Klippen und die Schwarze Leere, sind aber von weit angenehmerer Temperatur.« Nuelia kam zu ihr und hielt ihr den Wasserschlauch hin. »Hier trink, ihr seid beinahe verdurstet.«
Ellin setzte sich auf und nahm den Schlauch. »Wie habt ihr uns gefunden?«
»Das haben wir Bela zu verdanken. Sie hat uns durch die Stollen geführt, als wäre sie dort geboren. Wenn du mich fragst, trägt sie noxisches Blut in sich. Allerdings hat es einiges an Überredungskünsten meinerseits bedurft, um sie dazu zu bewegen, uns zu führen.« Sie grinste und deutete auf ihr Schwert.
Ellin rang sich ein Lächeln ab. »Wie geht es Kylian?«
Nuelia warf ihrem Bruder einen mitleidigen Blick zu. »Den Umständen entsprechend gut. Er schläft. Wie hast du ihn nur gefunden?«
Ellin erzählte ihr von ihrer Vision und den Feuerblumen.
»Du hast meinem Bruder das Leben gerettet«, stellte Nuelia fest. »Für die Gefahr, in die du dich deswegen begeben hast, würde ich dir am liebsten den Hals umdrehen und dir gleichzeitig auf Knien danken.« Sie verzog das Gesicht, halb Grinsen, halb schlechtes Gewissen.
»Du wirkst bedrückt. Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Ellin.
»Jalo ist tot«, erwiderte Nuelia. »Eine vergiftete Kugel steckte in seinem Hals.«
Erschrocken schlug Ellin die Hand vor den Mund. »Jalo? Bei den Göttern, das ist furchtbar. Weiß Kylian es schon?«
Nuelia schüttelte den Kopf. »Er ist noch nicht aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht. Er wird erschüttert sein, wenn er es erfährt.«
»Wer wird es ihm sagen?«
Nuelia zuckte mit den Schultern. »Ich bin seine Schwester, also muss ich es wohl tun. Doch darüber mache ich mir noch keine Sorgen. Wir wissen ja noch nicht einmal, wann er überhaupt erwacht. Im Moment sieht es so aus, als würde er noch eine ganze Weile schlafen.«
Jesh trat hinzu und reichte ihr eine Schale mit Kräuterbrühe und einem Stück Fleisch. »Willkommen zurück.«
Ellin stillte zuerst ihren Durst und machte sich dann über das Essen her. Anschließend sichtete sie die Schäden an ihrem Körper. Sie fand leichte Verbrennungen, einen großen blauen Fleck und ein paar Schürfwunden, die alle mit einer streng riechenden Paste bestrichen waren. Jemand hatte sie gewaschen, ihre Wunden versorgt und ihr frische Kleidung übergestreift. Sie kämmte sich notdürftig, ging dann zu Kylian und wartete auf sein Erwachen, doch er verschlief den restlichen Tag und auch die folgende Nacht. Nuelia flößte ihm Brühe und Wasser ein und bettete seinen Kopf auf frischem Moos. Am nächsten Morgen sah er nicht mehr ganz so blass aus, was Ellin zum Anlass nahm, das Loch in seiner Brust zu untersuchen. Vorsichtig entfernte sie die verkrusteten Reste der Feuerblumen und legte einen frischen Verband an. Auch die Kopfwunde heilte gut, die Beule war auf die Größe eines Thalmeiseneis geschrumpft. Doch obwohl sein körperlicher Zustand nicht dagegen sprach, erwachte er nicht.
Am nächsten Tag war Ellin beunruhigt und untersuchte seinen Körper nach versteckten Verletzungen, fand jedoch keinen Hinweis auf seine unnatürlich lange Bewusstlosigkeit. Erst als sie seinen Rücken abtastete, stellte sie überrascht fest, dass die Linien auf seiner Haut verblasst und nur noch als schwache Schemen zu erkennen waren. Wie eine alte Narbe, bei der man genau hinsehen musste, um sie zu entdecken. Sie schob seine Beinkleider hoch und untersuchte seine Beine. Auch dort war die Zeichnung verblasst. Besorgt winkte sie Nuelia herbei. »Was glaubst du hat das zu bedeuten?«
Nuelia starrte bestürzt auf die glatte Haut ihres Bruders. »Bei den Göttern, das kann nur eines bedeuten«,
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