Ellin
wisperte sie.
»Was? Wird er sterben?«
Nuelia rieb ihre Stirn und schloss die Augen. Ellin schnaubte.
»Nuelia, was geschieht mit ihm? So sprich doch endlich mit mir.«
»Mabon hat ihn verlassen«, antwortete Nuelia dumpf.
»Und das bedeutet was?«
»Es bedeutet, dass er seine Lebenskraft verliert und wird wie ein Mensch.«
Alles, was Ellin verstand waren die Worte Lebenskraft und verlieren . Sie umklammerte Nuelias Arm. »Wird er sterben?«
Nuelia schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt und hier, doch in zwanzig oder dreißig Sternenläufen. Wenn kein Wunder geschieht, ist er fortan wie ein einfacher Mensch. Ich habe so etwas schon einmal erlebt, als ein Uthra unserem Gott abgeschworen hat und dem Dämonenkult beigetreten ist.«
Ellin starrte Nuelia mit weit aufgerissenen Augen an. »Aber wie ist das passiert?«
Nuelia zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«
Ein Schatten fiel auf sie, als Bela hinzutrat und Kylian musterte.
»Was wollt Ihr?«, fragte Nuelia barsch.
»Ich bemerkte Eure bestürzten Gesichter und hielt es für angebracht, mich nach dem Befinden Eures Bruders zu erkundigen.«
»Er lebt«, zischte Nuelia. »Das ist alles, was zählt.«
Bela lachte, kurz und freudlos und deutete auf Kylians Rücken. »Wird er das genauso sehen, wenn er erwacht?«
Ellin und Nuelia antworteten nicht. Zu viel Wahrheit steckte in Belas Worten.
»Die Gabe des Feuergottes hat ihn gerettet«, fuhr Bela fort. »Doch dieses Geschenk war zugleich ein Fluch, der sein inneres Licht verzehrte, seid ihr Euch dessen bewusst, Ellin?«
Hierfür wird er einen hohen Preis bezahlen . Die Worte hallten in Ellins Gedanken wider. Sie hatte es gewusst. In dem Augenblick, als sie die Feuerblumen in seinem Fleisch versenkte, hatte sie es gewusst. Sein Überleben im Tausch gegen seine Lebenskraft. Aus dem Uthra, dem Gesandten des Lichts, war ein einfacher Mensch geworden. Ein Mensch wie sie. Wie würde er das verkraften? Würde er ihr die Schuld geben? Würde er sie gar hassen?
»Seht Euch vor«, warnte Bela wie zur Bestätigung. »Wenn er erwacht, werden seine hasserfüllten Blicke nicht mehr ausschließlich mir gelten.«
Ellin schluckte trocken. Bela hatte recht.
»Geht, kümmert Euch um Eure eigenen Belange und verschont uns mit Euren Prophezeiungen«, knurrte Nuelia.
Bela zog die Augenbrauen hoch und lächelte herablassend. »Wie undankbar Ihr seid. Doch Ihr werdet schon sehen, dass es keine gute Entscheidung war, ihn zu retten. Manchmal muss man sich dem Schicksal beugen, ob es einem gefällt oder nicht.« Damit wandte sie sich ab und stolzierte davon.
Nuelia legte eine Hand auf Ellins Arm. »Gräme dich nicht. Du hast getan, was du tun musstest. Ich bin mir sicher, dass mein Bruder es dir danken wird, wenn auch nicht sogleich.«
Ellin nickte. Nuelias Worte waren gut gemeint, doch konnten sie nicht verhindern, dass sie sich von diesem Moment an vor Kylians Erwachen fürchtete, vor der Enttäuschung und dem Schmerz in seinen Augen. Würde er sie hassen für das, was sie ihm angetan hatte? Bela hatte die Wahrheit gesprochen. Kylian wäre lieber tot als ein einfacher Mensch zu sein, noch dazu ein Unfreier.
Am vierten Tag war es so weit. Kylian schlug die Augen auf. Ellin saß zwischen den Wurzeln der Hebeleiche und nähte einen Riss in ihrer Tunika. Sie mochte diesen Platz, der alte Baum wirkte beruhigend und klärte ihre Gedanken. Jesh war mit Bela und einem Soldaten auf der Jagd, zwei andere Soldaten schnitzten an Speeren. Nur Nuelia, die neben ihrem Bruder saß und Erdknollen zerteilte, bemerkte, wie er erwachte. Ellin hörte sie sprechen. Kylians krächzende Stimme zerriss ihr fast das Herz. Mit zitternden Fingern stieß sie die Nadel durch den Stoff ihrer Tunika und spürte kaum, wie sie sich in den Finger stach. Erst der hervorquellende Blutstropfen brachte den Schmerz mit sich und mahnte sie zur Achtsamkeit. Natürlich würde Nuelia es ihm nicht sofort erzählen, doch wie lange konnte sie es vor ihm zu verheimlichen? Würde er es vielleicht sogar spüren? Egal. Spätestens, wenn er einen Blick auf seine Beine warf, würde er es sehen. Sie wagte einen Blick über den Wurzelrand. Kylian hatte sich aufgesetzt und starrte Nuelia fassungslos an.
»Jalo«, rief er und barg seinen Kopf in den Händen. Nuelia legte beruhigend die Hand auf seine Schulter. Er stieß sie von sich. Trost zu empfangen fiel ihm wie immer schwer. Schnell senkte Ellin den Kopf und konzentrierte sich wieder auf ihre Naht, die immer
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