Ellin
Brühe gleiten. Glücklicherweise ragten sein Kopf und die Schultern über die Wasseroberfläche hinaus. Langsam lief er am Ufer entlang und spähte auf den Boden. Mancherorts konnte er bis auf den Grund sehen, doch an vielen Stellen war das Wasser zu trüb, um etwas zu erkennen. Er musste näher ran. Angespannt versuchte er, die Seite des Teiches zu orten, die von der Stadt abgewandt lag. Durch den Brand sah alles gleich aus, doch dank seines Instinkts konnte er die Himmelsrichtungen auch in schwierigen Lagen und in völliger Dunkelheit bestimmen. Er durchquerte den Teich bis an das gegenüberliegende Ufer und schob mit seinen Füßen die am Grund liegenden Steine zur Seite. Als dies nichts nutzte, hielt er sich Mund und Nase zu und tauchte unter. Das Wasser war ekelhaft. Schritt für Schritt kroch er an der Böschung entlang, schob Schlingpflanzen und glitschiges Laichkraut zur Seite und entdeckte plötzlich einen höhlenähnlichen Eingang.
Er tauchte auf. Die Bergwand war mindestens zehn Doppelschritte entfernt. Wenn er dort hineintauchte und der Tunnel endete nicht in einer trockenen Höhle, würde er ertrinken. Ein aufgeregtes Kribbeln in seiner Magengrube warnte ihn. Das Verlangen nach Freiheit hingegen drängte ihn dazu, es zu versuchen. Es mochte ein Wagnis sein, doch eines, das er eingehen musste. Er füllte seine Lungen mit Luft, hielt den Atem an und tauchte unter. Ranziges Wasser drang in seine Nase. Der Tunnel war so eng, dass er sich an den Schlingpflanzen hindurchziehen konnte. Da er noch immer nicht vollständig genesen und auch nicht gewohnt war, die Luft anzuhalten, dauerte es nicht lange, bis der Drang zu atmen fast übermächtig wurde. Er unterdrückte die aufsteigende Panik und konzentrierte sich stattdessen auf den Schimmer, der nicht weit entfernt das dunkle Wasser zerteilte. Kurz darauf durchstieß er die Wasseroberfläche, spie schmutziges Teichwasser aus und sog gierig die Luft in seine Lungen. Dann sah er sich um. Eine hohe Steindecke spannte sich über eine weitläufige, von einem seltsamen blauen Schimmer erhellte Höhle. Zwei Gänge führten in entgegengesetzte Richtungen. Kylian stieg aus dem Wasser und zog sein Schwert. Das Kribbeln in seinem Bauch griff auf den gesamten Körper über. Angespannt und wachsam lauschte er in die Stille. Ein kaum wahrnehmbares Geräusch, es hörte sich an wie ein Säuseln, lockte ihn in den linken Gang. Mit jedem Schritt wurde es lauter. Das Wispern unzähliger Menschen erfüllte die Luft, köderte ihn, trieb ihn voran.
Und dann sah er sie.
Männer, Frauen und Kinder. Sie kauerten hinter einer Gitterwand in einem höhlenähnlichen Raum. Magische Zeichen auf dem Boden verbreiteten den blauen Schein. Die Menschen starrten ihn an. Ihre tiefliegenden Augen glühten fiebrig, die in Lumpen gehüllten Leiber ausgemergelt und bleich. Einer streckte hilfesuchend eine Hand zwischen den Gitterstäben hindurch, das Gesicht grotesk verzerrt, so als litte er große Schmerzen. Es zischte und seine Haut qualmte, dort wo er das blaue Licht berührte. Schnell zog er seine Hand zurück und stieß einen qualvollen Schrei aus. Die anderen fielen in sein Jammern mit ein, rauften sich die Haare, zerkratzten ihre Wangen mit Fingernägeln, die so lang und spitz waren wie kleine Dolche. Sie gebärdeten sich wie Tiere, gefangen in einem menschlichen Leib. Mitleid, Ekel und Zorn übermannten Kylian, als er die Wesen betrachtete. Was hatte Nosara nur getan?
»Wo ist die Herrscherin?«, fragte er.
»Nosara«, zischte eine Frau und versuchte, einen der Gitterstäbe zu umfassen. Sofort begann ihre Hand zu qualmen. Wimmernd zuckte sie zurück. »Wo ist sie? Wo ist unsere Herrin?«
Ihre Haare waren tiefschwarz und zerzaust, die Haut so durchscheinend wie gewalktes Fenn. Nichts Herrschaftliches war an ihr, nur Verzweiflung und Schmutz, und doch erinnerte sie Kylian an Nosara. »Wo ist sie?«, fragte der Mann neben ihr und sofort fielen die anderen ein. Wo ist sie? Wo ist sie? Wo ist sie? , erklang es aus einer Vielzahl von Kehlen. Wie ein unendliches Echo hallten die Worte von den Wänden wider. Die Wesen stierten ihn an, als verspräche er allein die Erlösung von ihren Qualen.
»Könnt ihr mir sagen, wo sie sich aufhält?«, versuchte Kylian es erneut.
»Nosara, unsere Herrin, wo ist sie?«
»Wo ist unsere Herrin?«
»Bring sie zu uns.«
»Wir brauchen sie.«
»Wo ist sie?«
Wieder erbebten die Wesen, zerrten an ihren Kleidern, rissen sich Haare aus, verblassten. Bestürzt
Weitere Kostenlose Bücher