Ellin
nach seiner Schulter und schüttelte ihn. »Bleibt wach. Sagt mir, sprecht Ihr vom Versteck der Herrscherin? Habt Ihr es gefunden?«
Jorus’ Glieder begannen zu zucken. Seine Pupillen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Schaumiger Speichel quoll aus seinem Mund, vermischt mit Blut. Kylian drückte ihn auf das Lager und versuchte, seinen zuckenden Körper zu halten. »Ich brauche die Heilerin, schnell«, rief er.
Wenige Augenblicke später fiel der Heerführer in sich zusammen und lag still. Kylian tastete nach seinem Puls.
»Was ist passiert?«, fragte der herbeigeeilte Wachsoldat.
»Der Heerführer hatte einen Anfall.«
»Ist er tot?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, sein Herz schlägt noch, wenn auch schwach. Holt Heilerin Wu, sie soll nach ihm sehen.«
Der Soldat nickte und entfernte sich. Kylian erhob sich und blickte aus dem Fenster. Noch war es Nacht, doch der Morgen nahte. Ein kaum wahrnehmbarer Hauch von Grau schimmerte am Horizont. Er beschloss, in den Götterhain zu gehen und Jorus’ Worte zu überprüfen. Wenn es ihm tatsächlich gelänge, Nosaras Versteck zu finden, sie vielleicht sogar zu stellen und ihrem Bruder auszuliefern, könnte er Fortas als Belohnung um seine Freilassung bitten. Unwillkürlich wanderte seine Hand zu dem Brandmal im Nacken. Das äußere Zeichen seiner Schande würde ihn für den Rest seines Lebens an die Knechtschaft erinnern. Auch der Verlust seiner Zeichnung würde wie eine dunkle Wolke über ihm schweben, solange er lebte. Nur die Hoffnung auf Liebe und eine Familie, eine Zukunft mit Ellin, die nun nicht mehr vor ihm sterben musste, ließ ihn das alles ertragen. Entschlossen schnappte er seinen Waffengurt und humpelte zur Tür.
Trotz der Verbesserung seines Zustands war der Abstieg schmerzhaft und anstrengend. Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete er sich Stufe um Stufe abwärts. Auf der dritten Ebene hielt er kurz inne und überlegte, nach Ellin zu sehen, doch sie schlief sicher tief und fest. Außerdem wollte er keine Zeit mehr verlieren. Mit etwas Glück würde er ihr noch am selben Tag als freier Mann gegenübertreten. Dieser Gedanke gab ihm Mut und dämpfte seine Schmerzen. So schnell es sein verletztes Bein zuließ, überquerte er den Innenhof und schlug den Weg zum Götterhain ein. Erst einmal war er in Nosaras Begleitung im heiligen Garten gewesen, doch er erinnerte sich noch gut an die farbenfrohen Blüten, deren Duft die Sinne betörte. Die weißen Bäume, die wie regungslose Wächter am Wegrand standen sowie das Plätschern unzähliger kleiner Wasserfälle, die von den moosbewachsenen Hängen perlten und den Garten in einen immergrünen Talkessel verwandelte. Es war ein magischer Ort, der eine tiefe Ruhe ausstrahlte und die Gedanken klärte.
Der Geruch nach Asche und verbranntem Holz stieg in seine Nase, noch bevor er den Götterhain erreichte. Mit einem mulmigen Gefühl kletterte er über die Eisenpforte, die aus den Angeln gehoben worden war und nun verbogen am Boden lag. Selbst im Dunkeln sah er, dass er ein totes Reich betrat. Die Bäume waren nur noch verkohlte Stumpen, die wie faule Zähne aus der verbrannten Erde ragten. Keine Blume, kein Blatt, nicht ein Hauch von Grün war geblieben. Der heilige Hain war zu Asche verbrannt. Das Morgengrauen kroch am Himmel herauf und je heller es wurde, umso schrecklicher wurde der Anblick, der sich ihm bot. Verkohlte Tiere lagen auf dem Weg, die Leiber grotesk verzerrt. Alles war mit einer dicken, grauen Ascheschicht bedeckt und der beißende Geruch fast unerträglich. Kylian humpelte durch die Asche und eilte auf den Teich zu. Nichts als graues Wasser, auf dessen Oberfläche tote Fische trieben. Er umrundete den Teich, einmal, zweimal, doch weder fand er ein Versteck noch einen geheimen Eingang. Frustriert hielt er inne und rief sich die Worte des Heerführers in Erinnerung. Nosara ist im Wasser. Götterhain .
Jorus sagte im Wasser , was bedeutete, dass sich irgendwo am Grund des Teichs eine Höhle oder ein Durchgang befinden musste. Andererseits ‒ der Heerführer war schwach und verstört gewesen, vielleicht hatte er nur fantasiert und gar nicht von Nosaras Versteck gesprochen. Leise fluchend beäugte Kylian den Teich. Das Wasser war nicht tief, normalerweise konnte man bis auf den Grund blicken, doch nun war es trüb und schlammig und stank fürchterlich. Alles Grübeln half nichts. Er musste sich vergewissern. Kurzentschlossen rutschte er die Böschung hinab und ließ sich in die
Weitere Kostenlose Bücher