Ellin
dessen Genesung mit großen Schritten voranschreitet. Sofort griff er nach seinem Bein. Es fühlte sich noch immer ein wenig taub an. Er versuchte, mit den Zehen zu wackeln und freute sich, als es ihm gelang. Dann blickte er sich um. Zu seiner Rechten lag einer der Heerführer. Sein Kopf war bandagiert und er atmete flach. Heilerin Wu hatte ihm erzählt, dass sein Schädelknochen gebrochen und sein Überleben unwahrscheinlich war. Jeden Morgen blickte Kylian als Erstes auf den Schwerverletzten, immer befürchtend, dass er über Nacht gestorben sein könnte. Doch auch am fünften Tag nach seiner Verwundung lebte er noch, sein Zustand blieb jedoch besorgniserregend.
»Halt durch, Soldat.« Kylian schob seine Beine unter der Decke hervor und stemmte sich vorsichtig hoch. Die Beinwunde pochte und stach, doch er kämpfte sich verbissen auf die Füße. Weiter hinten konnte er die Stimmen von Soldaten vernehmen, die sich darüber unterhielten, dass Herrscherin Nosara noch immer nicht gefunden worden war. Erzürnt über das Verschwinden seiner Schwester versprach Fortas demjenigen, der sie aufstöberte, eine reiche Belohnung. Kylian vermutete, dass sie sich in den Tiefen des Herrscherhügels versteckt hielt oder in den Wald geflohen war, wo ihr die Schattenkrieger Schutz und Zuflucht gewährten. Er griff nach dem Stock an der Wand und humpelte in den Thronsaal. Mit verkniffener Miene saß Fortas auf Nosaras Thron und studierte eine Karte. Die Gecken, die in Kismahelia stets zu seinen Füßen gehockt hatten, waren verschwunden, nur Bela stand bei ihm und blickte mit konzentrierter Miene über seine Schulter. Nichts mehr erinnerte an den heiteren Mann von einst. Noch immer versetzte Belas Anblick Kylian einen Stich, zu tief saß der Groll wegen des Brandmals.
Fortas sah auf. »Kylian, du bist auf den Beinen, das freut mich.«
Kylian verneigte sich so gut er es vermochte. »Dank den Künsten von Heilerin Wu geht es mir von Tag zu Tag besser. Ich danke Euch für ihre Dienste.«
Fortas winkte ihn zu sich heran. »Komm, setz dich zu uns. Wir studieren die Karte Huanacos, um einen Hinweis auf das Versteck meiner Schwester zu finden.«
Kylian humpelte zum Thron und plumpste auf ein Sitzkissen. Ein scharfer Schmerz schoss sein Bein hinab, als er sich fallenließ. Auf einen Wink des Herrschers reichte ihm ein Diener einen Becher mit verdünntem Würzwein. Er stürzte ihn durstig hinunter und nahm dann die Karte entgegen, die ihm der Herrscher reichte.
Sie war umfangreich und überaus detailliert. Alle Wege, Höhlen, Plattformen und größeren Gebäude waren darauf verzeichnet.
»Ich habe alles überprüfen lassen«, sagte Fortas. »Doch niemand hat auch nur eine Spur von meiner Schwester gefunden.«
»Konzentriert Euch nicht nur auf das, was auf dieser Karte verzeichnet ist«, riet Kylian. »Sicher gibt es einen oder auch mehrere Geheimgänge, durch die Nosara geflohen sein könnte.«
Fortas griff nach der Karte und faltete sie zusammen. »Du bist schon oft in diesem Palast gewesen. Sind dir die geheimen Wege denn nicht bekannt?«
»Nein, Herr. Aber es gibt bestimmt jemanden, der sie kennt. Ein loyaler Diener, ein Leibwächter oder die Palastvorsteherin vielleicht.«
»Wir haben das Gesinde bereits befragt«, warf Bela ein. »Doch selbst unter Todesandrohung behaupten alle, nichts über Nosaras Verbleib zu wissen.« Sie bedachte den Herrscher mit einem vorwurfsvollen Blick. »Die Folter würde so manche Zunge lösen, wenn ich sie denn anwenden dürfte.«
Fortas hob beschwichtigend die Hand. »Warte noch ein oder zwei Tage. Sollten wir Nosara bis dahin nicht gefunden haben, ziehen wir diese letzte, barbarische Möglichkeit in Betracht.« Er wandte sich Kylian zu. »Glaubst du, du könntest etwas herausfinden? Ich würde dich für die Ergreifung meiner Schwester reich belohnen.«
Kylian neigte den Kopf. »Wenn Ihr das wünscht, Herr.«
»Wenn es jemandem gelingen könnte, dann dir. Lass dich von deinem Instinkt leiten. Sobald du dich stark genug fühlst, erlaube ich dir, dich frei im Palast zu bewegen.« Er wedelte mit der Hand, als Zeichen dafür, dass Kylian entlassen war.
Auf dem Weg zu seinem Lager begegnete er den Wachsoldaten, die soeben abgelöst wurden.
»Ihr seid Heerführer Kylian, richtig?«, fragte der Kleinere. »Ich habe eine Nachricht für euch.«
Kylian runzelte die Stirn. Er war nicht Stimmung für unwichtige Botschaften.
»Von der Heilerin Ellin«, fügte der andere hinzu.
Kylian riss die Augen auf.
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