Ellin
Plötzlich treten seine Schuhe in ihr Blickfeld. Sein Zeigefinger legt sich unter ihr Kinn und hebt es an.
Er betrachtet sie mit einer Mischung aus Verachtung und Neugier. Ihr Herz pocht wie nach dem Schleppen eines gefüllten Gerstknollenkorbes.
»Wie heißt du?«, fragt er.
»Ellin, mein Herr.«
»Ellin? Soso. Und wie alt bist du, Ellin?«
»Ich zähle fast elf Sternenläufe.«
Er nimmt seinen Finger von ihrem Kinn. Sofort senkt sie ihr Haupt und blickt wieder zu Boden.
»Das wird meine neue Leibdienerin sein«, verkündet Lord Wolfhard.
»Sehr wohl, mein Herr«, sagt der hagere Mann. Ellin kann hören, dass er überrascht ist. »Sieh auf und bedank dich gefälligst bei deinem Herrn«, zischt er ihr zu.
Sie schluckt trocken und tut wie geheißen. »Vielen Dank, mein Herr«, presst sie mit zittriger Stimme hervor.
Verächtlich blickt Lord Wolfhard auf sie hinab, dann grinst er, nicht freundlich, eher lauernd. »Kümmer dich drum, dass sie gewaschen und angemessen gekleidet wird, Skavos, und bring sie anschließend in meine Gemächer.«
»Sehr wohl, mein Herr«, erwidert der hagere Mann, greift nach Ellins Arm und führt sie hinaus.
»Wohin bringt Ihr mich?«, fragt Ellin, doch Skavos antwortet nicht. Mit großen Schritten schreitet er voran und zerrt sie hinter sich her.
»Wo ist meine Mume?«
»Schweig still«, zischt er.
»Bitte, ich muss mich noch von ihr verabschieden. Sicher wartet sie unten im Hof auf mich«, fährt sie unbeirrt fort.
Skavos hält inne und dreht sich zu ihr um, ein hämisches Grinsen auf den Lippen. »Deine Mume ist fort!«
Ellin schüttelt den Kopf, Tränen schießen in ihre Augen. »Ihr müsst Euch irren. Tilda würde nicht gehen, ohne sich von mir zu verabschieden.«
»Sie würde und sie ist gegangen. Und jetzt sei still, bevor ich dir deine erste Schelle verpasse, noch bevor Lord Wolfhard es tut.« Er wendet sich ab und setzt seinen Weg fort. Das Klappern seiner Holzschuhe hallt durch den Gang. Für Ellin klingt es wie eine Drohung.
»Bitte Herr, haltet ein. Wo ist Tilda? Wo ist sie?«, ruft sie und eilt ihm nach. »Ich will zu ihr, versteht doch bitte …«
Bitte! Ihr Flehen blieb ungehört. Wo war sie? War sie tot? Es roch nicht nach Wald und der Boden unter ihr bewegte sich. Sie versuchte, die Augen zu öffnen, doch aus irgendeinem Grund wollte es ihr nicht gelingen. Ihre Kehle war trocken und brannte. Das Atmen fiel ihr schwer. Durst, sie hatte schrecklichen Durst und diese Hitze. Bei den Göttern, sie hatte das Gefühl von innen heraus zu verglühen.
Jemand hob ihren Kopf. »Trink!«
Ein Becher wurde an ihre Lippen gehalten und herrlich kühles Wasser floss in ihren Mund. Dann ein anderer Becher mit einer zähen, bitteren Flüssigkeit. Sie hustete. Quälende Schmerzen in ihrer Brust, als würde jemand mit einem Dolch darin herumfuhrwerken.
Dann Dunkelheit. Sei gegrüßt, Dunkelheit, du bist willkommen. Die Dunkelheit erlöste sie von Schmerz und Angst, von Hunger und Durst. In der Dunkelheit war sie frei.
Sie steigt empor. Stufe um Stufe erklimmt sie die Treppen eines endlos anmutenden Turms. Oben wartet eine Frau, mit schwarzem Haar und einem leuchtend-weißen Gewand. Der Wind zerrt an ihren Haaren, während das Kleid sie flatternd umspielt und die Vollkommenheit ihres Körpers enthüllt. Neben ihr steht ein dunkelhaariger Mann. Seine grünen Augen blicken ihr erwartungsvoll entgegen. Ellin fällt auf, dass sein linkes Auge kleiner ist als das rechte, eine wulstige Narbe auf dem Lid verhindert, dass es sich vollständig öffnet. Auch die darüber liegende Augenbraue sowie seine Unterlippe sind von heller, narbiger Haut durchtrennt.
Sie betrachtet ihn. Trotz der Narben ist er auf eine ungezähmte Art schön. Sein Gesicht, mit der gekrümmten Nase und dem lodernden Blick lässt ihn hochmütig erscheinen und gefährlich. Es erinnert sie an einen Raubvogel. Sein Leib ist schlank, soweit sie das unter der weiten Tunika erkennen kann und er hat wohlgeformte Beine. Sie fragt sich, ob die Frau seine Gefährtin ist? Seltsamerweise gefällt ihr dieser Gedanke nicht.
»Hast du ihn getötet?«, fragt die Frau.
Der Mann tritt auf sie zu und streckt seine Hände aus. »Hast du ihn getötet, Ellin?«
Sie sieht ihn fragend an. Die grünen Augen bohren sich in ihre.
»Ellin?«, fragt er.
Woher kennt er ihren Namen? Und wen soll sie getötet haben?
»Gib mir den Beweis«, fordert er sie auf. »Denn wenn du es nicht getan hast, muss ich es tun.«
Sie weicht zurück.
Weitere Kostenlose Bücher