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Ellin

Ellin

Titel: Ellin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Millman
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»Ich weiß nicht, von was Ihr sprecht. Ich habe niemanden getötet.«
    »Gib mir den Beweis!«, fordert er erneut und folgt ihren Schritten. »Gib ihn mir, schnell!«
    Die Frau tritt hinzu. Ihre schlanken Finger klammern sich um Ellins Arm, wie Krallen bohren sich die Fingernägel in ihr Fleisch. »Du hast ihn doch getötet, oder?«
    »Ich weiß nicht, was Ihr von mir wollt«, sagt Ellin verzweifelt. »Ich weiß es nicht … bitte«.
    Sie weicht zurück, bis an den Rand des Turms. Grenzenlose Tiefe tut sich hinter ihr auf. Der Mann und die Frau lassen sie nicht aus den Augen, folgen ihr, drängen sie bis an den Abgrund. Plötzlich verschwimmt das Antlitz der Frau, verändert sich, wird zu dem Gesicht eines Mannes, der ihr ähnelt wie ein Bruder.
    »Warum hast du mich getötet?«, fragt der Mann.
    »Das hab ich nicht«, erwidert Ellin und weicht einen weiteren Schritt zurück. Ihre Füße rutschen ab. Sie tastet nach einem Halt, stolpert. Verzweifelt greift sie nach den Händen des Mannes, doch plötzlich ist der Turm verschwunden und auch der Mann ist fort.
    Sie fällt ins Leere.
    Der Traum endete abrupt, machte Platz für einen tiefen Schlaf, in dem es nichts gab, außer Dunkelheit. Tagelang wankte sie zwischen Traum und Wirklichkeit, erwachte nie vollends. In dem Dämmerzustand zwischen Wachen und Schlafen schmeckte sie Wasser und bittere Medizin, spürte Feuchtigkeit auf ihrer Haut, als jemand sie wusch, hörte weit entfernte Stimmen und nahm den Geruch von Tieren wahr. Immer wieder wurde sie von anhaltenden und schmerzhaften Hustenkrämpfen durchgeschüttelt, die sich anfühlten, als würde sich ihr Inneres nach außen kehren.
    Und plötzlich erwachte sie. Hatte sie ihre Umgebung bisher nur im Delirium als verschwommene Schemen wahrgenommen, so war sie nun zum ersten Mal bei klarem Verstand. Verstört blickte sie sich um. Zu ihrer Rechten saß eine alte Frau. Sie hatte ihr den Rücken zugewandt und summte leise vor sich hin, während sie in einer Schale rührte. Die grauen Haare trug sie zu einem langen Zopf geflochten. Der braune Kittel war an vielen Stellen geflickt, doch der Gürtel, der um ihre Hüfte geschlungen war, war fein gearbeitet und glänzte golden im schwachen Schein der Feuerschale. Allerlei seltsame Dinge hingen daran. Ellin erspähte eine ovale Scheibe, die einen eigenartigen Schimmer verbreitete, eine bestickte Scheide mit einem Dolch und ein prall gefülltes Säckchen. Sie drehte ihren Kopf und betrachtete den Innenraum des Wagens. Sie lag im hinteren Bereich. Vor ihr, nur einen Doppelschritt entfernt, befand sich der Einstieg. Zu ihrer Linken entdeckte sie Schlafmatten und mehrere Felle, die ordentlich gefaltet und aufeinandergestapelt worden waren. In einem Korb, der an einem Seil hing, lagen Becher, Essmesser und das Kochgeschirr.
    »Oh, du bist wach.« Lächelnd beugte sich die alte Frau über sie und offenbarte eine große Zahnlücke. Zahllose Falten zogen sich von Augen und Lippen über ihre Wangen.
    Ellin betrachtete sie schweigend. Da sie viel jünger war, durfte die alte Frau sie in vertraulicher Weise ansprechen, doch selbstverständlich war es nicht.
    Die Frau griff nach einem Becher, hob ihren Kopf an und gab ihr etwas Wasser. »Mein Name ist Geldis«, stellte sie sich vor.
    »Ellin«, krächzte sie. Ihre Kehle brannte. Ein Hustenkrampf ließ sie zusammenfahren. Noch immer fühlte sich ihre Brust an wie eine offene Wunde und der Husten war eine einzige Qual, doch der Todeshauch war gewichen.
    »Hast du Hunger, Ellin?«
    Sie nickte. Und wie sie das hatte.
    »Jesh hat Wühlhorneintopf gemacht. Ich gehe hinaus und hole dir eine Schale.«
    Während Geldis den Wagen verließ, versuchte Ellin, sich aufzurichten. Ihre Arme zitterten und sie befürchtete, dass es ihr nicht gelingen würde, doch sie zwang sich ächzend nach oben, löste mit ihrem Versuch aber einen erneuten Hustenanfall aus. Mit schmerzverzerrtem Gesicht und nach Atem ringend, saß sie da und wartete darauf, dass der Schwindel verging.
    Wer waren diese Leute? Wie war es ihnen gelungen, sie zu finden, wo sie doch mitten im Wald gelegen hatte?
    Sie werden dich finden , hatte die Stimme gesagt. Doch das war im Fieber gewesen und nicht die Wirklichkeit.
    Geldis tauchte wieder auf und brachte den dampfenden Eintopf. Mühevoll kletterte sie in den Wagen zurück. Ellin befürchtete, dass sie die Suppe verschütten würde, so sehr schwankte sie beim Erklimmen der Stufen. Der kräftig-würzige Duft nach Kräutern und Fleisch stieg

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