Ellin
Euch Eurem Schicksal zu überlassen. Habt Ihr das verstanden?«
Ellin schluckte schwer und nickte.
»Gut, also beginnen wir von vorn. Vor wem oder was seid Ihr auf der Flucht?«
»Ich bin vor dem Herrn von Veckta geflohen«, antwortete sie kleinlaut.
»Warum? In welcher Beziehung steht Ihr zu ihm?«
»Ich war seine Leibdienerin.«
»Sonst nichts?«
Ellin bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick und schüttelte energisch den Kopf. Wie konnte er sie nur so etwas fragen? Das gehörte sich nicht.
Kylian rollte mit den Augen. »Jeder kennt den Herrn von Veckta und seine Vorliebe für junge Frauen. Ihr ward seine Leibdienerin und Ihr seid eine junge Frau. Wollt Ihr wirklich behaupten, dass Ihr nicht in seinem Bett gewesen seid?«
Trotzig presste sie die Lippen aufeinander und schwieg. Was Lord Wolfhard getan hatte, ging ihn nichts an.
»Was ist? Antwortet mir!«, befahl er.
Ellins Wangen glühten, doch diesmal nicht nur wegen des Fiebers. »Ich habe ihm nicht beigelegen«, erklärte sie so würdevoll wie möglich.
Kylian musterte sie stirnrunzelnd. »Also hab Ihr Euch ihm verweigert. Ist das der Grund für Eure Flucht?«
Woher wusste er das? Konnte er ihre Gedanken lesen? Sie nickte. Heiß brannte die Scham auf ihren Wangen.
Kylian fuhr sich über den Kopf und stieß prustend die Luft aus seinen Lungen. »Der Herr von Veckta ist nicht gerade für seine Nachsicht bekannt. Besteht die Möglichkeit, dass er Euch verfolgen lässt?«
Sie zögerte. Sollte sie lügen? Wie gut kannte sie ihren Dienstherrn wirklich? Würde er eine entflohene Dienerin verfolgen lassen?
»Ich weiß es nicht. Bei Lord Wolfhard ist alles möglich«, antwortete sie schließlich.
Kylian wandte sich Geldis zu und warf ihr einen bedeutungsvollen Blick zu. »Das ist nicht gut. Wie ich sagte, sie bringt uns in Gefahr.«
Die beiden starrten einander an, als würden sie ein wortloses Gefecht austragen. Nervös blickte Ellin von einem zum anderen. Sie war noch nicht stark genug, um da draußen zu überleben. Wenn die Nomaden sie jetzt aussetzen würden, wären ihre Überlebenschancen ebenso gering wie während des Abstiegs vom Hammerfels.
»Ich bringe Euch nicht in Gefahr, ich bezweifle, dass mich Lord Wolfhard verfolgen lässt. Sicher geht er davon aus, dass ich den Abstieg nicht überlebt habe«, warf sie hastig ein. »Bitte glaubt mir.«
Eine plötzliche Schwäche ließ sie schwanken.
Wieder musterte Kylian sie mit diesem durchdringend Blick, als versuchte er, herauszufinden, was sich hinter der Fassade des unschuldigen Mädchens verbarg. Kein Mitgefühl war in seinen Augen zu erkennen.
»Gib ihr ein paar Nächte, um zu genesen, dann kann sie immer noch gehen«, schlug Geldis vor. »Und zu den Braunen Seen werden Lord Wolfhards Männer gewiss nicht kommen.«
Kylian seufzte. »Also gut. Sie bleibt hier, bis sie wieder zu Kräften kommt.«
»Ich danke Euch«, wisperte Ellin.
»Dankt nicht mir, dankt meinen Gefährten für ihr weiches Herz.«
Brummend erhob er sich und verließ den Wagen. Erleichtert sackte Ellin auf die Felle zurück. Sie war kaum noch in der Lage, die Augen offen zu halten. Beruhigend strich Geldis über ihr Haar. »Sei unbesorgt. Kylian mag eine raue Schale haben, doch sein Inneres ist weich wie Kräuterschmalz.«
Ellin wagte das zu bezweifeln, doch zumindest schien die unmittelbare Gefahr, dass er sie einfach irgendwo aussetzen würde, vorerst gebannt.
»Du musst jetzt ruhen«, fuhr Geldis fort. »Morgen wird es dir sicher bessergehen.«
Vogelgezwitscher weckte sie aus einem tiefen, heilsamen Schlaf. Nicht das laute Kreischen der Waldvögel, sondern das wohlklingende Tirilieren sangesfreudiger Thalmeisen. Sie gähnte herzhaft und streckte sich. Die Kopfschmerzen waren verschwunden und der Fels in ihrer Brust war auf die Größe eines Kieselsteins geschrumpft. Auch das Atmen fiel ihr nicht mehr halb so schwer wie zuvor.
Ein wenig zu hastig setzte sie sich auf und kämpfte gegen den plötzlichen Schwindel. Der Wagen stand still, daran konnte ihr Schwanken nicht liegen. Neben ihrer Schlafstatt fand sie einen Gerstfladen mit Kräuterschmalz und einen Becher Schwarzbeersaft, den Geldis, dem Geruch nach zu urteilen, mit Kräutersud gemischt hatte. Hungrig machte sie sich über das Morgenmahl her. Anschließend kämpfte sie sich hoch und wankte, noch etwas schwach auf den Beinen, zum Einstieg. Zaghaft öffnete sie den Vorhang einen Spaltbreit und spähte hinaus. Sie erblickte zwei wunderschöne, silbergraue Pferde,
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