Ellin
einer gewöhnlichen Arbeit nachgehen müssen.«
Er schnaubte. »Wir brauchen keine Seherin und gewiss werde ich nicht sesshaft werden. Unser Leben ist so schon gefahrvoll genug. Wenn ich an einem Ort verweile, erhöht sich die Gefahr einer Entdeckung um ein Vielfaches und auf einen aufgebrachten Menschenmob, der sich des Nachts über meine Familie hermacht, kann ich wahrlich verzichten. Das habe ich schon einmal durchlebt und will es gewiss kein zweites Mal.«
»Wie immer malst du dein Leben in den düstersten Farben. Aber Menschen ändern sich. Vielleicht werden sie euch eines Tages akzeptieren.«
Kylians linkes Augenlid begann zu zucken, wie immer wenn er angespannt war. »Die Menschen ändern sich nicht, niemals.«
Geldis zögerte, ihr Blick glitt über sein Gesicht. Wie von selbst wanderte ihre Hand zu der Narbe über seinem Auge, ihre Fingerspitzen berührten die wulstige Haut. »Was auch immer geschehen ist und ob du es willst oder nicht, du bist ein Teil dieser Welt, Kylian. Bin ich nicht auch ein Mensch? Und doch vertraust du mir.«
Er ergriff ihre Hand und zog sie weg. »Das ist etwas anderes. Du lebst in unserer Welt nach unseren Regeln. Doch niemals wirst du erleben, wie ich mich zu deinesgleichen geselle.«
Seine Stimme war so kalt und hartherzig, dass Geldis zurückwich. Lange schon hatte er seinen Zorn auf die Menschen nicht mehr so deutlich gezeigt.
»Du bist bitter und voll Hass«, erwiderte sie kraftlos. »Ich hoffte, dass ich es bis zu meinem Tod schaffen würde, dein verschlossenes Herz zu öffnen.«
Langsam wandte sie sich um und wirkte plötzlich mehr denn je wie eine alte Frau, tief gebeugt unter der Last ihres mühseligen Lebens. Kylian verspürte ein nagendes Drängen in der Brust und das Bedürfnis, sich bei ihr zu entschuldigen. Doch Geldis kam ihm zuvor. »Geh«, sagte sie. »Ich muss mich um das Mädchen kümmern.«
Unbehaglich verlagerte er sein Gewicht und überlegte, wie er sie um Verzeihung bitten könnte, ohne zugeben zu müssen, dass er ihr unrecht getan hatte. »Immerhin bedeutet deine Vision wohl, dass sie überleben wird.«
Geldis zuckte nur mit den Schultern, während sie eine Handvoll getrocknete Kräuter in eine flache Schale füllte.
»Die Zukunft kann sich immer ändern, ist nie gewiss. Das Kommende ist wie ein sich windender Fisch, der unvermittelt die Richtung ändert und dir, ehe du dich versiehst, entgleitet.« Sie blickte zu ihm auf. Die Trübung ihrer Pupillen hatte sich gelichtet, für einen Augenblick hatte sie wieder die Augen einer jungen Frau. »Sie ist ein Geschenk deines Gottes, Kylian. Weise Mabons Gabe nicht zurück.«
Kylian verengte die Augen zu Schlitzen. »Du redest wirres Zeug, Weib«, stieß er hervor. »Wenn sie überlebt, sehen wir zu, dass wir sie so schnell wie möglich wieder loswerden. Das ist mein letztes Wort.« Damit machte er kehrt und stürmte aus dem Wagen.
5
D er Weg zur Felsenfestung ist lang, doch Ellin kann er gar nicht lang genug sein. Immer wieder fleht sie Tilda an, sie nicht fortzubringen, aber Tilda zerrt sie unerbittlich weiter, den Hammerfels hinauf, tiefer hinein in Lord Wolfhards Reich. Wo sind die Wiesen und endlosen Felder hin, die sie so liebt? Kein einziger Baum, keine Blume, nicht einmal ein Büschel trockenes Gras wächst auf dem kargen Felsmassiv. Die Festung selbst erhebt sich wie ein unheilvoller Schatten über den Berg, ragt hinauf bis in die Wolken und verdunkelt die große Sonne. Dieses düstere Gemäuer aus grauem Stein soll ihre neue Heimstatt sein? Niemals. Wenn Lord Wolfhard genauso ist, wie das Land, das ihn umgibt, dann muss er ein wahrhaft schrecklicher Mensch sein.
»Warum kann ich nicht bei dir bleiben?«, fragt Ellin wohl zum hundertsten Mal.
Tilda seufzt ergeben. »Versteh doch Kind, es geht nicht! Als Lord Wolfhard vom Tod deiner Eltern erfuhr, hat er angeordnet, dass du zur Festung gebracht werden sollst, um in seine Dienste zu treten. Das ist eine große Ehre.«
»Ich will aber nicht in seine Dienste treten«, erwidert sie trotzig.
Tilda hält inne und ergreift ihren Arm. Plötzlich sieht sie ungehalten aus. »Reiß dich zusammen! Du bist kein kleines Kind mehr. Die Welt ist grausam und die Menschen sind es umso mehr. Lord Wolfhard bietet dir Schutz und eine sichere Stellung. Eines Tages wirst du das zu schätzen wissen.«
Ellin zuckt zusammen, senkt ihr Haupt und blickt auf das Gestein zu ihren Füßen. Nicht einmal ein Käfer oder ein Büschel trockenes Gras findet eine Heimstatt auf
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