Ellin
Anscheinend war sie dem Knochensammler gerade noch entkommen.
Kylian machte ein missmutiges Gesicht und bearbeitete schweigend die Klinge seines Schwertes mit einem ölgetränkten Tuch. Seine offensichtliche Abneigung gegen sie war ihr ein Rätsel und zugleich ein Problem, da es sich bei ihm offensichtlich um den Anführer der Gruppe handelte. Ihn gegen sich zu haben, könnte sie das Leben kosten.
Als er sich wenig später erhob und zu dem Wagen ging, um die gereinigten Waffen zu verstauen, sammelte sie allen Mut, den sie aufbringen konnte, und folgte ihm. Von Affra hatte sie gelernt, dass es besser war, sich einer unangenehmen Situation zu stellen. Vielleicht stellte sich seine Abneigung als Missverständnis heraus.
»Was wollt Ihr?«, fragte er, ohne sie sich nach ihr umzusehen.
»Wenn es Euch nicht allzu viel ausmacht, würde ich gerne mit Euch sprechen«, erwiderte sie.
Unwillig wandte Kylian sich um und verschränkte sogleich die Arme vor der Brust, als würde er sie daran hindern wollen, Fragen zu stellen oder ihm zu nahe zu kommen. »Warum?«
Ellin räusperte sich. »Ich möchte mich für meine Rettung bedanken. Dafür stehe ich tief in Eurer Schuld. Ihr sollt wissen, dass ich nicht vorhabe, ein lästiges Anhängsel zu werden. Sobald wir ein Dorf oder eine Siedlung erreichen, werde ich Euch verlassen. Bis dahin kann ich mich nützlich machen, Euch bei den täglichen Verrichtungen helfen.«
Wieder dieser eindringliche Blick, wie ein Greifvogel auf Beutejagd. Sie spürte, wie sich ihre Wangen röteten. Warum nur ließ sie sich von ihm derart verunsichern? Er war nicht Lord Wolfhard, er hatte keine Macht über sie.
»Wenn Ihr uns nicht in den Sümpfen verlassen wollt, dann müsst Ihr uns wohl noch eine Weile begleiten«, sagte er schließlich.
Ellin sah ihn entsetzt an. »Ihr geht zu den Braunen Seen? Aber … warum?«
»Wir haben einen Auftrag«, antwortete er.
Gerne hätte sie ihn gefragt, welcher Art der Auftrag war und ob sie aus diesem Grund so viele Waffen bei sich trugen, doch nach einem Blick in sein abweisendes Gesicht, entschied sie sich dagegen.
»Ich möchte nicht zu den Braunen Seen. Könnt Ihr mich nicht zuvor in einem Dorf absetzen?«, wagte sie stattdessen zu fragen.
»Nein. Das letzte Dorf haben wir gestern um die Mittagszeit passiert. Wenn Ihr gehen wollt, werde ich Euch nicht aufhalten, doch wir werden nicht umkehren.«
»Aber die Braunen Seen sind gefährlich. Es ist kein Ort für Menschen.«
Kylian schnaubte. »Alle Wege sind gefährlich, die Sümpfe sind es nicht mehr und nicht weniger als andere Orte auf dieser Welt. Geht oder bleibt. Es ist Eure Entscheidung.«
Damit kehrte er ihr demonstrativ den Rücken zu und begann, die Armbrust in ein ledernes Tuch zu hüllen.
Sie stand unsicher da und überlegte, ob sie eine weitere Frage wagen durfte. »Wie weit ist es noch bis zu den Sümpfen?«
Seine Hände krallten sich in das Tuch, mit mühsam beherrschter Wut drehte er sich zu ihr um. Instinktiv wich sie einen Schritt zurück.
»Ihr redet zu viel!«, fauchte er. »Seht Ihr denn nicht, dass ich nicht belästigt werden will?«
Ihr lag eine Erwiderung auf den Lippen, doch da sie ihn nicht noch mehr erzürnen wollte, schwieg sie. In Lord Wolfhards Diensten hatte sie gelernt, Worte zurückzuhalten, trotzdem brannte das erzwungene Schweigen wie Säure in ihrer Kehle. Trotzig reckte sie das Kinn vor, wandte sich ab und stolzierte davon. Sie würde wohl damit leben müssen, dass dieser Mann aus unerfindlichen Gründen eine Abneigung gegen sie hegte. Wenigstens schien er nicht vorzuhaben, sie in der Wildnis auszusetzen. Sie wünschte sich, Jesh oder Nuelia würden ihr erklären, warum er sie verabscheute, doch als sie am Lagerfeuer Platz nahm, taten sie so, als wäre nichts Ungewöhnliches geschehen, obwohl sie die Auseinandersetzung sicher mitangehört hatten. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie Kylian Jesh ein Zeichen gab, woraufhin dieser ihr ein Messer reichte und sie darum bat, die Rüben für das Nachtmahl zu schneiden.
Während sie still ihre Arbeit verrichtete, dachte sie über die Braunen Seen nach. Als Kind hatte ihr Vater viele unheimliche Geschichten erzählt. Von giftigen Pflanzen, deren tödliche Sporen vom Wind davongetragen wurden und die jedes Lebewesen töteten, die sie einatmeten, und von vogelähnlichen Kreaturen, jedoch viel größer und weitaus gefährlicher, und auch von unwegsamem Boden, der unvermittelt nachgab und jeden in die Tiefe zog, der das Pech
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