Ellin
sich so wenig wie möglich an den Gesprächen zu beteiligen, verstaute ihr Bündel im Wagen, froh darüber, Kylians unmittelbarer Nähe zu entrinnen. Anschließend sammelte sie Zweige und entfachte ein Feuer. Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich schuldig. Zwar schien ihr niemand einen Vorwurf zu machen, im Gegenteil, Jesh kümmerte sich rührend um ihr Wohlbefinden und versuchte mit allerlei Späßen, ihr ein Lächeln zu entlocken, dennoch fühlte sie sich befangen. Nun, da sie wusste wer Jesh, Kylian, Nuelia und Butan wirklich waren, empfand sie sich noch mehr als Eindringling als zuvor. Etliche Fragen türmten sich in ihrem Kopf. Wo kamen die Uthra her? Wie hatten sie zueinandergefunden? Wie war es ihnen gelungen, der Verfolgung durch die Menschen zu entgehen?
Doch sie wagte nicht, auch nur eine davon zu stellen. Es war eine verschworene Gemeinschaft, zu der sie ungewollt gestoßen war, eine Gemeinschaft, in der sie eine Fremde bleiben würde. Und obwohl ihr die Uthra mit Freundlichkeit begegneten, spürte sie doch das tiefsitzende Misstrauen, welches auch sie empfand. Sie sprachen über Dinge, die sie nicht verstand, stockten inmitten eines begonnenen Satzes und warfen einander bedeutungsvolle Blicke zu, als würden sie sich plötzlich daran erinnern, dass sich eine Unbefugte in ihrer Mitte befand.
Ellin war froh, als das Nachtmahl vorüber war und sie endlich in den Wagen kriechen konnte, ohne unhöflich zu wirken. Am liebsten hätte sie den Einstieg verschnürt, damit sich niemand unbemerkt nähern konnte, doch da Geldis ebenfalls im Wagen schlief, konnte sie das nicht tun. Erschöpft wickelte sie sich in das Schlaffell und versuchte, ihre Sorgen und Ängste auszusperren.
9
L ord Wolfhards Zorn brach über das Gesinde herein wie eine Flutwelle über ein Küstendorf. Jeder bangte um das Wohl der Bediensteten, die gezwungen waren, sich in seiner Nähe aufzuhalten. Niemand kam ungeschoren davon. Selbst sein loyalster Diener und rechte Hand Skavos bekam Fußtritte und Hiebe. Gerüchte machten die Runde, darüber, warum Lord Wolfhard über Ellins Flucht derart außer sich war. Die meisten waren der Ansicht, dass ihn die Dienerin bestohlen hatte, andere behaupteten, dass ihr Herr besessen sei von ihrer Schönheit. Als er erfahren hatte, dass Ellin noch lebte, bekam er einen Wutanfall, unter dem die Festungsmauern erzitterten. Er brüllte und schrie, zertrümmerte die Wasserkanne samt Waschtisch, riss die Jagdtrophäen von den Wänden und zerstörte das filigrane Fenn an den Fenstern. Den Hauptmann, der sie hatte entwischen lassen, peitschte er eigenhändig aus, bevor er ihn vor den Augen aller die Klippen hinabstieß. Der überlebende Soldat wurde ebenfalls gezüchtigt und anschließend auf unbestimmte Zeit in den Kerker gesperrt.
In einem verzweifelten Versuch, ihren Herrn zu beruhigen, schickte das Gesinde eine hübsche Magd, die ihn mit körperlichen Gefälligkeiten zur Ruhe bringen sollte. Doch als der Morgen graute, kehrte sie weinend und geschunden in die Küche zurück, während Lord Wolfhard weiter tobte und sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank. Seither glich die Festung einer Gruft. Das Gesinde huschte durch die Gänge und sprach nur im Flüsterton miteinander. Selbst die Soldaten zogen sich in ihre Quartiere zurück.
Jede Nacht betete Affra darum, dass Lord Wolfhard Ellin nie finden möge, und dankte den Göttern dafür, dass sie noch lebte. Nach Ellins Flucht hatte Wolfhard den Torwächter in den Kerker werfen lassen, wo er sich noch immer befand. Natürlich hatte dieser Affra als Fluchthelferin beschuldigt, doch aufgrund ihres stetigen Leugnens und einer Notlüge seitens der Mägde und Küchenjungen, die behaupteten, dass sie sich die ganze Zeit über in der Küche befunden hätte, war sie von dem Verdacht freigesprochen worden. Wahrscheinlich hätte Lord Wolfhard sie trotzdem in den Kerker sperren lassen, überlegte Affra, nur ihre Kochkünste hatten sie vor diesem Schicksal bewahrt.
An diesem Morgen kam Skavos in die Küche, mit tiefen Schatten unter den Augen und einer rot geschwollenen Wange. Seine dünnen Haare waren zerzaust, die Kleidung knittrig, als hätte er darin geschlafen, und dunkle Bartstoppeln zierten sein normalerweise glattrasiertes Gesicht. Erstaunt blickte Affra ihn an. Sie kannte Skavos nur als unnahbar und beherrscht, stets tadellos gekleidet und sauber. Akribisch und scheinbar ohne Gefühle führte er Lord Wolfhards Befehle aus und stand genau wegen dieser eiskalten
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