Ellorans Traum
erwachsen, Elloran! Bekenne dich endlich zu deinem Erbe. Du weißt, daß du von mir jede Hilfe, jede Unterstützung bekommst, die du dir wünschst.«
Ich vernahm diese Worte wie in einem Traum. Gebannt von ihren Augen und der samtigen, leisen, leidenschaftlichen Stimme, gehalten von dem festen Griff ihrer Hände hätte ich dieser Frau mein Leben und mehr anvertraut. Ich sah sie wie eine Statue aus Fleisch und Blut vor mir knien: das krause weiße Haar wie eine schwebende Wolke um ihr schwarzes, von einem inneren Feuer brennendes Gesicht. Ihre Augen, ihr Mund, ihre Stimme und ihre Hände sagten nur eins: Nimm dir die Macht, die dir zusteht, und ich folge dir, wohin du auch gehst. Mir wurde schwindelig, und ich klammerte mich an ihre starken, schmalen Hände wie ein Ertrinkender an eine Planke.
Sie legte eine Hand über meine Augen und raunte: »Für heute schenke ich dir Vergessen, Elloran. Aber du wirst dich erinnern, wenn es an der Zeit ist. Bis dahin wirst du zweifeln und grübeln. Das sei dein Erbe, bis du dein wahres Erbe antreten kannst. Ich glaube an deine Kraft und an deine Fähigkeit, die richtige Entscheidung zu treffen. Aber jetzt – vergiss!« Ich blinzelte. Für einige Augenblicke erschien hinter Leonie die schlanke, verhüllte Gestalt, die mir im Traum und im Spiegel immer wieder begegnet war. Sie sah mich aus geweiteten Augen starr an, und ihre Lippen formten unhörbare Worte. Ein Schleier senkte sich über meinen Blick, und ich verlor für kurze Zeit das Bewußtsein.
Als ich wieder zu mir kam, saß ich wie zu Beginn im großen Zimmer, sah aus dem Fenster und hörte hinter mir Leonies Stimme: »Du solltest dich jetzt besser beim Kammerherrn melden. Er wird sich Sorgen machen.« Ich stand hastig auf und bedankte mich für ihre Mühe. Sie sah mich an, ohne zu lächeln und sagte: »Bedanke dich nicht, Elloran. Du hast keine Ahnung ...« Sie unterbrach sich und winkte kurz und ungeduldig mit der Hand. »Komm morgen wie immer zu mir. Unser Spiel ist an einem entscheidenden Punkt angelangt. Ich bin gespannt, für welchen Zug du dich entscheidest.«
Karas saß an seinem Schreibtisch, als ich eintrat. Ich hatte nur kurz in meinem Quartier halt gemacht, um wenigstens das zerrissene Wams auszuziehen – die teils mißbilligenden, teils mokanten Blicke, die mich auf meinem Weg von Leonies Räumen zum neueren Teil der Burg getroffen hatten, hatten mich überzeugt, daß ich in diesem Aufzug dem Kammerherrn auf keinen Fall unter die Augen treten durfte.
Meister Rowald schien ihm schon Bericht erstattet zu haben. Karas hob den Kopf und sah mich wortlos an. Dann stand er schwerfällig auf und trat zu mir, ohne den Blick von meinen zerschlagenen Zügen zu wenden. Er legte seine Hände um mein Gesicht und strich behutsam mit dem Daumen über meine geschwollenen Lippen.
»Was ist geschehen, weshalb hast du dich mit Jord geschlagen?« fragte er bekümmert. Ich faßte nach seiner Hand und zog sie an meinen Mund – es war das erste Mal, daß ich eine seiner zärtlichen Gesten erwiderte. Sein Gesicht zuckte, und er schien um Fassung zu ringen.
»Ich k-kann es Euch nicht sagen, domu «, antwortete ich verlegen auf seine Frage. »Es w-war zu – Er hat mich b-beleidigt. Ich hätte einfach hinausgehen sollen, aber er hat m-mich getroffen. Ich schäme mich w-wirklich dafür, daß ich mich habe reizen l-lassen.«
Er sagte nichts, ließ mich aber auch nicht los. Sein trauriger, enttäuschter Blick ruhte auf meinem Gesicht, als wolle er die Wahrheit aus meinen Schrammen herauslesen. Ich hielt dem Blick stand, ohne die Augen niederzuschlagen. Schließlich seufzte er und sein Blick wurde milder. Er küßte mich sacht auf die Stirn und sagte streng: »Geh, binde dir die Haare zusammen. Du siehst aus wie ein Mädchen.«
»Ich h-habe kein Haarband mehr«, antwortete ich verdutzt. Die beiden Bänder, die ich noch aus Salvok mitgebracht hatte, waren fort. Karas schüttelte mißbilligend den Kopf und wühlte in seinem Schreibtisch herum.
»Hier, Kind, nimm das.« Er drückte mir eine kostbare, schwarz-goldene Seidenkordel in die Hand. »Können wir weitermachen, oder hast du zu starke Schmerzen?«
»Leonie hat m-mich gut versorgt.« Ich schlang hastig die Kordel um meinen Zopf. Karas nahm meine Antwort mißbilligend zur Kenntnis und schickte mich wortlos zurück an meine Arbeit.
Der Kammerherr verübelte mir anscheinend doch, daß ich ihm den Grund für den Vorfall in der Schreibstube verschwieg und sagte unser abendliches
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