Ellorans Traum
Beisammensein ab. Ich ließ mir einen kleinen Imbiß auf mein Zimmer bringen und zog mich dann in einen der unzähligen kleinen Innenhöfe der Burg zurück. Es war ein milder, klarer Abend, Vögel sangen, und ein kleines Lüftchen bewegte sacht die Zweige der Bäume, an denen das erste, frische Grün knospte. Ich hockte mich neben ein halb verfallenes Mäuerchen und lehnte den Kopf an den gefleckten Stamm einer Birke. Weit über mir zogen kleine, weiß und rosa getönte Wolken über einen blaßblauen Abendhimmel. Ich zog die Knie an die Brust und schloß für eine Weile die Augen. Kühle Hände strichen durch mein Haar und zupften zart an den Strähnen, die sich aus meinem Zopf gelöst hatten. »Weißt du«, erklärte meine Schwester gedankenverloren, »eigentlich ist alles ganz einfach. Du läßt dich nur so schrecklich schnell ablenken.« Sie hockte neben mir, die bloßen Füße unter sich gezogen und flocht mir einen dünnen Zopf in meine Stirnlocke.
»Du hast gut reden«, antwortete ich erbost. »Du weißt immer alles besser, gibst mir aber überhaupt keine Hinweise. Alle erwarten irgend etwas von mir, aber keiner sagt mir die Wahrheit! Das war schon auf Salvok so, und hier ist es nicht anders.« Sie rümpfte die Nase, was mich ein wenig an Jenka erinnerte.
»Ich kann dir nicht helfen«, verteidigte sie sich. »Es gibt mich schließlich nicht wirklich, weißt du?«
»Aber warum hast du mich dann angefleht, dich zu suchen, dir zu helfen? Was für eine Gefahr war das, in der du schwebtest? Das scheint doch mit einem Mal alles nicht mehr so dringlich zu sein, habe ich recht?« Ich war richtig wütend auf sie. Warum versuchten nur alle Menschen, die ich kannte, mich herumzuschubsen?
Ihr Gesicht, das dem meinen so erschreckend glich, wirkte schuldbewußt und trotzig zugleich. »Die Gefahr schien sehr wirklich«, verteidigte sie sich. »Wenn du auf Salvok geblieben wärst, wäre ich jetzt – ich würde nicht mehr – Ach, das ist so schwer zu erklären!«
Sie zupfte einen Grashalm aus und schob ihn zwischen ihre vollen, roten Lippen. Ich streckte vorsichtig eine Hand aus und wickelte eine ihrer Haarsträhnen um meinen Finger. Sie entzog sie mir sanft und wisperte: »Sei sehr vorsichtig, Elloran. Nicht alle hier wollen dir wohl.« Ich lachte böse und betastete mein immer noch geschwollenes Auge. Sie schüttelte ungeduldig den Kopf und runzelte die Stirn. »Das meine ich nicht, Elloran. Jemand, dem du vertraust ...«, sie stockte und sah sich erschreckt um. »Ich darf nicht!« sagte sie verzweifelt. »Wenn sie mich hier mit dir sieht ...« Sie sprang auf und lief leichtfüßig über den Rasen ins Haus.
»Bleib doch hier!« rief ich enttäuscht. »Bitte, bleib bei mir!«
»Ich bin ja da«, antwortete eine weiche dunkle Stimme neben mir. Ich schrak zusammen und öffnete die Augen. Goldene Augen blinzelten mich spöttisch an. »Hast du geträumt, Elloran?« Ich fuhr mir verwirrt durch die Haare und blieb mit den Fingern in einem dünnen Zopf hängen.
»J-ja«, sagte ich zögernd. »Ich habe wohl g-geträumt, Leonie.« Sie antwortete nicht, sondern griff mit ihren überlangen Fingern in mein Haar und löste das Zöpfchen auf. »D-darf ich dich etwas fragen, Leonie?« Sie nickte nur, ihre Finger immer noch in meinem Haar. »W-warum versuchen alle hier, mich zu b-beeinflussen? Was ist los, was wollt ihr nur von mir? Ich bin doch nur ein ganz g-gewöhnlicher ...« Ich war den Tränen nahe, und meine Stimme versagte, was mich zutiefst beschämte.
Leonie stand auf und ging einige Schritte fort. »Du bist kein ›ganz Gewöhnlicher‹, Elloran, das müßtest du doch inzwischen begriffen haben!« Ihre Stimme klang ungewöhnlich scharf. Sie wandte mir noch immer den Rücken zu. »Du bist, ob es dir nun gefällt oder nicht, eine der wichtigsten Figuren in einem sehr gefährlichen Spiel.« In einer fließenden Bewegung schwang sie zu mir herum und packte mich bei den Schultern. »Ich habe es dir schon einmal gesagt: Du solltest niemandem vertrauen, nicht einmal deiner eigenen Großmutter! Keiner hier in diesem – Spinnennetz ist ohne Eigennutz, auch ich nicht! Wenn du überleben willst, dann denke immer daran, Elloran. Immer!« Sie ließ mich so plötzlich los, daß ich taumelte und beinahe hingefallen wäre.
»Und w-wenn ich von hier f-fortginge?« fragte ich kläglich.
»Das wäre das Dümmste, was du tun kannst!« fauchte sie. Ihre hohe, langgliedrige Gestalt ragte düster und drohend über mir auf. »Du fielest
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