Ellorans Traum
und fuhr mir durchs Gesicht. Meine Fingernägel waren schmutzig, es sah aus, wie ...
Die Erinnerung traf mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich konnte nichts anderes tun als schreien. Es war, als könnte ich nie wieder damit aufhören. Ich würde hierbleiben, bis ich starb und schreien, schreien, schreien. Hände schüttelten mich und gaben mir zwei unsanfte Ohrfeigen.
»Elloran, reiß dich zusammen!« ermahnte mich meine Schwester scharf. »Mit deiner Brüllerei änderst du jetzt auch nichts mehr. Himmel, du reitest dich ja von einer Klemme in die nächste! Du dummes Kind!« Sie zog mich an sich und wiegte mich in ihren Armen. »Was machen wir jetzt nur?« murmelte sie. Sie hörte sich an wie Leonie.
Ich hob mein nasses Gesicht von ihrer Schulter und fragte kläglich: »Was geschieht jetzt mit mir? Werden sie mich hinrichten?« Sie schwieg. Ich packte sie an der Schulter. »Bitte, das dürft ihr nicht zulassen! Ich will nicht sterben, ich will nicht!«
Sie löste sanft den Griff meiner klammernden Finger und hielt meine Hand fest. »Leonie versucht, dir zu helfen«, sagte sie mit einem hoffnungslosen Unterton in der Stimme. »Aber sie ist im Augenblick auch in keiner allzu angenehmen Lage. Karas und Veelora glauben, daß sie die Krone verraten hat. Wahrscheinlich kann sie froh sein, daß sie nicht deine Nachbarzelle bewohnt. Aber das wagen sie wohl doch nicht. Noch nicht.« Ich wischte mir die Augen. Leonies Probleme kümmerten mich in meiner Lage eher weniger. Ich war sicher, daß sie mich hinrichten würden. Würden sie mich köpfen lassen oder hängen? Oder – mir lief es kalt über den Rücken – würden sie mich hier einfach verhungern lassen?
»Also wirklich – du denkst immer nur an dich!« schalt meine Schwester. »Hast du auch nur eine Sekunde mal an den Jungen gedacht, den du umgebracht hast? Und daran, was du Veelora und Karas damit angetan hast? Daß du daran Schuld bist, wenn es jetzt doch Krieg gibt? Wirklich, manchmal könnte ich dich ...« Ihre zornige Stimme verklang, sie war fort.
»Geh nicht weg, laß mich nicht allein!« flehte ich jämmerlich. Meine Stimme hallte von den kahlen Wänden wider, ich war allein in der Zelle. Und das blieb ich auch, lange, lange. Essen und Wasser wurden morgens durch eine Klappe in der Tür hereingeschoben, ich sah nie, wer es mir brachte, und niemand sprach je mit mir. Ich lag auf der Pritsche, ich wanderte in der Zelle auf und ab – vier Schritte hin, vier Schritte her – und bereitete mich auf meinen Tod vor. Wenn ich die Augen schloß, sah ich Cescos Gesicht und hörte seine Stimme. Im Laufe der Zeit veränderte sich der Anblick, und ich sah das, was ich in meiner Raserei aus ihm gemacht hatte: Ich sah das Bett vor mir, die blutbespritzten Laken, den einst so schönen und jetzt von Messerstichen, Zähnen und Fingernägeln zerfetzten, verstümmelten Leib meines Geliebten, die büschelweise ausgerissenen Haare, sein dunkel angelaufenes Gesicht mit den blutig herausquellenden Augen und der fast schwarzen Zunge, die aus seinem aufgerissenen Mund hing – ich fand keinen Schlaf mehr. Ruhelos wanderte ich durch die winzige Zelle, und wenn mir die Augen zufielen, riß ich sie wieder auf, kniff mich in den Arm, biß in meine Hand, schlug die Stirn gegen die rauhen Mauersteine; tat alles, um wachzubleiben. Natürlich gelang es mir nicht, aber der Schlaf, der mich überkam, war wenig dazu geeignet, mich zu erfrischen. Schreiend erwachte ich aus meinen Träumen, und alles begann von vorne. Ich begann, den Tod herbeizusehnen: alles erschien mir wünschenswerter als diese endlose Marter.
Ich zählte die Tage nicht mehr. Manchmal erschien es mir, als hätte ich die meiste Zeit meines Lebens eingesperrt verbracht: im Arbeitshaus, in meinem Zimmer, in dieser Zelle. Ich hörte auf herumzulaufen. Ich lag auf der Pritsche, starrte an die Decke und hörte auf zu denken.
»He, du hast Besuch.« Ein Finger stupste mich in die Seite. Ich wandte ungläubig den Kopf. »Rück ein Stück«, sagte sie und setzte sich neben mich. »Also, das hier soll ich dir von Leonie geben.« Ein Brief und ein in Papier gewickeltes Päckchen lagen in meiner Hand. Regungslos starrte ich beides an. Sie seufzte ungeduldig. »Nun mach's schon auf!« forderte sie. Ich wickelte das Papier ab und schrie auf. Voller Ekel schleuderte ich die blutbefleckte Kordel von mir und hielt mir die Augen zu.
»Ach, du machst mich fertig«, stöhnte meine Schwester. Ich hörte sie aufstehen und über den
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