Ellorans Traum
Vogelzwitschern, das Pfeifen des Windes, rauschende Blätter und dergleichen mehr übertönt wurde, begann mich in der zweiten Woche meiner Reise etwas anderes zu belästigen: In meinen Augenwinkeln, immer gerade am Rande meines Blickfeldes, bewegte sich etwas. Eine menschliche Gestalt, wie ich annahm, die mir zuzuwinken schien. Wenn ich mich nach ihr umdrehte und versuchte, sie in den Blick zu fassen, mußte ich jedesmal feststellen, daß dort nichts war. Ich sah vom Winde bewegte Zweige, ein davonhoppelndes Kaninchen, auffliegende Vögel ... aber das war nicht das, was ich eigentlich erwartet hatte.
Zusammen mit den unermüdlich wispernden Stimmen zermürbte diese Erscheinung mich langsam. Ich wurde schreckhaft und gereizt und fühlte mich auf unerklärliche Weise bedroht und verfolgt. Das Glückskraut half mir zwar anfangs ein wenig, meine zerrütteten Nerven zu beruhigen, aber schließlich wendete ich in meiner Verzweiflung mein Heilmittel der Nächte auch tagsüber an. Solange ich mich in einem Zustand leichter Trunkenheit befand, peinigten mich meine Heimsuchungen nicht gar so heftig.
Von Julian hörte und sah ich nichts. Ich wollte ihn nicht mit meinem Problem belästigen, da er mit Sicherheit mit seinen eigenen Angelegenheiten zu beschäftigt war, um sich in Ruhe damit auseinandersetzen zu können. Zudem war ich inzwischen keine Woche mehr von der Kronenburg entfernt, wo wir uns ohnehin wiedersehen würden.
Drei Tagesreisen vor der Kronstadt machte ich gegen Abend Rast in einer kleinen Herberge, die von einer verhutzelten alten L'xhan geführt wurde. Als ich in den winzigen Schankraum trat, um mein Abendessen einzunehmen, durchfuhr mich ein heftiger, eiskalter Schreck. An einem Tisch saßen in vertrautem Gespräch Tom und Jemaina. Für einen Augenblick vergaß ich beinahe meine Tarnung und zuckte herum, um zur Tür hinauszustürmen. Jemaina streifte mich mit einem gleichgültigen Blick und wandte sich wieder ihrem Gegenüber zu. Ich atmete tief durch, entspannte meine verkrampften Muskeln und ließ mich am Nebentisch nieder. Was taten die beiden hier? Unaufmerksam verzehrte ich, was die Schankmaid mir vorsetzte, und spitzte meine Ohren, um etwas von dem aufzuschnappen, was am Nebentisch gesprochen wurde.
»Sie hat alles gut vorbereitet«, bemerkte Jemaina gerade. Ihre Stimme klang ruhig. Tom nickte. Ich blickte mit Schaudern auf seine haarigen, kräftigen Hände, die entspannt auf dem Tisch ruhten. Nichts an ihnen deutete auf die mörderischen Klauen hin, die sie in Wirklichkeit waren.
»Was macht euch so sicher, daß er mitkommt?« fragte er.
»Er muß kommen. Er verliert sonst alles, worauf er in den letzten Jahren hingearbeitet hat, verstehst du?«
Tom neigte sich zu ihr und murmelte leise. Ich konnte ihre weitere Unterhaltung nicht mehr verstehen, weil das ekelhafte Flüstern in meinen Ohren aufdringlicher wurde. Ich unterdrückte ein Stöhnen und bestellte eilig Wein bei der Schankmaid. Wenn ich doch nur etwas klarer hätte denken können! Was war vorbereitet worden, wer wurde erwartet? Betraf diese Unterhaltung am Ende vielleicht Julian und mich?
» ... wird mit dem Jungen?« vernahm ich jetzt wieder Toms Stimme. Ich zuckte erschreckt zusammen.
Jemaina schüttelte den Kopf. »Es ist zu spät«, antwortete sie nüchtern. Tom fuhr auf, aber sie legte beruhigend ihre dunkle Hand auf seinen Arm. »Bitte, Tom. Es hat keinen Zweck, wir können nichts mehr daran ändern«, sagte sie eindringlich. »Er hatte eine winzige Chance, aber er hat sie vertan. Wir alle müssen jetzt sehen, wie wir das Beste aus der verfahrenen Lage machen.«
Ich war zutiefst erschüttert über ihr fühlloses, kaltes Gebaren. Jemaina sprach über mich wie über einen Gegenstand, der seine Nützlichkeit verloren hatte. Wie bitter hatte Julian recht behalten: Ich konnte niemandem vertrauen, noch nicht einmal denen, die mir immer am nächsten gestanden hatten. Alle wünschten mir den Tod. Sie würden noch ein böses Wunder erleben, das schwor ich mir.
Die beiden erhoben sich und verließen den Schankraum. Ich blickte ihnen unschlüssig hinterher. Es hatte wenig Sinn, ihnen zu folgen. Am liebsten wäre ich sofort wieder aufgebrochen, aber meine brave Stute benötigte eine Pause. Also ließ ich mir schweren Herzens einen weiteren Krug für die Nachtwache bringen und zog mich damit auf mein Zimmer zurück.
In dieser Nacht waren die Stimmen lauter und aufdringlicher denn je. Ich war sogar in der Lage, die eine oder andere Silbe
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