Ellorans Traum
soweit, Liebes?«
Ich fühlte mein Herz schneller schlagen. »Jemaina, ich muß Leonie etwas berichten«, platzte ich heraus, aber sie winkte ab.
»Das muß warten, Kind. Leonie darf ich jetzt nicht mehr stören. Warum sagst du es nicht mir?« Ich schüttete ihr mein Herz aus, und ihre Miene wurde sehr bedenklich. »Was sollte er damit beabsichtigt haben? Das ist doch völlig sinnlos.« Sie griff nach meinen Händen und sah mir tief in die Augen. »Hat er irgendeinen Zauber an dir versucht, Elloran? Nein, sag jetzt nichts. Ich sehe selbst nach ...« Sie verstummte, und ich sah gebannt in ihre schwarzen Augen. Die Welt um mich versank. Endlich brach der Bann, und sie ließ mich kopfschüttelnd los.
»Nichts«, sagte sie. »Da ist kein Anzeichen einer Beeinflussung. Seltsam ...« Sie wandte sich an ihre Nichte, die uns aufmerksam zugesehen hatte. »Jenka, ich muß dich nun bitten, mir deinen Schützling zu überlassen. Ich kann es dir nicht versprechen, aber Leonie und ich werden unser Bestes tun, daß ihr kein Leid geschieht.« Jenka wurde unter ihrer dunklen Haut blaß, nickte aber tapfer.
Wir umarmten uns fest, und ich flüsterte: »Warte hier auf mich, Liebste. Ich komme heil zu dir zurück, das verspreche ich dir!«
Sie nickte wieder stumm, und ich sah den feuchten Schimmer in ihren Augen. Wir küßten uns, als wäre es ein Abschied für immer. Schließlich räusperte sich Jemaina und mahnte: »Es ist Zeit, Elloran. Trennt euch jetzt, Kinder. Bitte!« Ich wandte mich um und folgte der Heilerin hinaus.
»Wohin gehen wir?« fragte ich nach einer Weile. Wir bewegten uns immer tiefer in den alten Teil der Burg hinein. Sie schrak ein wenig zusammen, als ich sie so aus ihren Gedanken riß und lächelte mich dann aufmunternd an.
»Mach nicht so ein ängstliches Gesicht, Elloran. Wir haben alles Menschenmögliche getan, uns vorzubereiten. Julian ist stark und verschlagen, aber Leonie ist weiser und geschickter als er. Wenn es dir ebenfalls gelingt, ihm zu widerstehen, hat er kaum eine Chance, den Kampf zu gewinnen.« Sie strich sacht über meine Schulter.
Ihre Worte hatten mich nicht gerade aufgemuntert. Hartnäckig wiederholte ich meine Frage. Sie führte mich schweigend zu einer steilen Treppe, und ich dachte zuerst, sie würde mir nicht antworten. »Hinauf auf den Alten Turm«, sagte sie schließlich müde. Dorthin hatte Jenka den falschen Nikal verfolgt!
Wir stiegen die endlose Treppe hinauf, immer höher und höher. Mein Atem ging schwer, als wir endlich die oberste Plattform des Turmes erreichten und ins Freie traten. Der Ausblick war unbeschreiblich. Ich glaubte, ganz L'xhan unter mir ausgebreitet zu sehen – war dort, weit im Süden, nicht sogar das Meer zu sehen wie ein nebliger Streif? Und über mir ein endloser, verglühender Himmel, in dem die ersten Sterne funkelten. Ich blickte hinauf und war benommen von der Schönheit dieses Anblicks.
Jemaina berührte mich sanft an der Hand und bedeutete mir, ihr zu folgen. Wir näherten uns der hohen, schweigenden Gestalt, die reglos in der Mitte der Plattform stand. Ihre gelben Augen waren weit geöffnet und schienen dennoch nichts zu sehen. Wie bei unserer ersten Begegnung erinnerte mich die Oberste Maga an eine wunderschöne, ehrfurchtgebietende Statue; kein Atemzug bewegte die Falten ihres weißen Gewandes, kein Muskel regte sich in ihrem wie gemeißelt wirkenden Gesicht, und kein Blinzeln verriet, daß diese Figur lebte.
Jemaina sprach sie leise an. Die Statue erbebte fast unmerklich. Ihre schweren Lider senkten sich unendlich langsam, und ein langer Atemzug hob ihre Brust. Sie wandte den Kopf und sah mich an. Ihr Blick war ferner als die fremden Sonnen über uns. Ich spürte, wie mein Hals vor Furcht trocken wurde. Die Lippen der Statue teilten sich, und eine Stimme aus der kalten Unendlichkeit flüsterte unmittelbar in meinen Geist. In diesen bangen, beängstigenden Minuten erfuhr ich alles, was die Krone über sich und ihr Amt zu wissen hatte. Ich begriff, daß dies ein wahrhaft einmaliges Ereignis darstellte, ähnlich dem Treueeid, den sie mir geschworen hatte. Noch niemals in der Geschichte hatte eine Thronerbin diese geheimsten aller geheimen Kunden erfahren, ehe sie gekrönt und in ihr Amt eingesetzt worden war. Leonie brach nun diese Regel, und ich ahnte mit kaltem Schrecken, weshalb. Sie befürchtete, den Zweikampf nicht zu überleben.
Das Wispern verstummte, die Vogelaugen sahen wieder in die Ferne. Ich sank wie betäubt von dieser Flut an
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