Ellorans Traum
überhaupt ist!« Er war laut geworden, und seine Stimme war voller Angst. Jemaina stand hastig auf und holte ein versiegeltes Gefäß von einem Bord voller Tiegel, Kannen und Flaschen herunter. Sie trat an Nikals Seite und ließ ihn daraus trinken. Seine Stimme verklang murmelnd, der Kopf sank ihm auf die Brust, und er schlief ein. Die Heilerin sah auf ihn nieder und drehte ratlos das leere Gefäß in ihren Händen. Endlich erinnerte sie sich an mich und kam zu mir an die Tür.
»Ich wollte, daß du dir das anhörst«, sagte sie gedämpft. »Du kennst ihn wahrscheinlich besser als alle anderen hier.«
»Was ist los mit ihm?« fragte ich, als sie nicht weitersprach. »Das war doch völlig irres Zeug, was er da erzählt hat. Ist er betrunken?«
»Unser ›Heiliger Nikal‹? Du machst Witze!«
Natürlich hatte sie recht, der Gedanke allein war absurd. Nikal war bekannt dafür, daß er niemals auch nur einen Tropfen Alkohol anrührte. So war er auch zu seinem Spitznamen gekommen, mit dem ihn seine Männer allerdings wohlweislich nur dann bedachten, wenn sie sicher waren, daß er es nicht hörte.
»Aber irgend etwas ist seit dem Sommer nicht mit ihm in Ordnung. Er benimmt sich immer häufiger so merkwürdig.«
Jemaina nickte und stellte endlich den Behälter beiseite. »Deshalb ist er auch zu mir gekommen. Er klagte wieder über Kopfschmerzen und Gedächtnislücken. Wenn ich es nicht besser wüßte, würde ich annehmen, daß er eine üble Kopfverletzung hatte, aber das ist nicht der Fall.« Sie hielt inne und rieb sich müde mit einer Hand das dunkle Gesicht. »Ich bin am Ende meiner Weisheit, Ell. Dieser Winter raubt mir langsam mein gesamtes Selbstvertrauen. Erst dein unerklärliches Fieber, und jetzt das hier ...«
Ich strich besänftigend über ihre Schulter, obwohl ich selbst des Trostes bedurft hätte. Jemaina hob den Kopf und straffte ihre stämmige kleine Gestalt.
»Ich wollte dir nichts vorjammern, Ell. Du kannst mir vielleicht helfen. Berichte mir bitte alles Ungewöhnliche, was dir an Nikals Betragen aufgefallen ist.«
Ich trug zusammen, was mir dazu einfiel: Nikals Unbeherrschtheit und seine unerklärlichen Wutanfälle; daß er mich einige Male nicht erkannt hatte; mein Gefühl, es manchmal mit einem Fremden zu tun zu haben. Währenddessen ging Jemaina in geschäftiger Konzentration im Raum umher und nahm Büschel von getrockneten Kräutern von den Haken, an denen sie von der Decke hingen. Sie zerstieß sie in ihrem steinernen Mörser und fügte kleine Prisen einer mir unbekannten Ingredienz hinzu, die sie einem kleinen irdenen Tiegel entnahm. Schließlich gab sie eine winzige Menge einer grünlich schillernden, zähen Flüssigkeit zu den fein zerstoßenen Kräutern und verrührte alles zu einer dicken Paste. Sie breitete ein sauberes Leintuch auf dem Tisch aus und löffelte den Brei darauf. Mit ihren kurzen, geschickten Fingern formte sie kleine Kugeln aus der Paste, die sie fest in das Tuch eindrehte. Zum Schluß band sie ein Stück Schnur um beide Tuchzipfel und hängte es zum Trocknen in den Rauchfang.
»So, das hätten wir.« Die kleine Heilerin wischte sich die Hände ab und strich eine Haarsträhne ungeduldig beiseite, die sich aus ihrem Zopf ins Gesicht verirrt hatte.
»Was hast du da zubereitet?« wollte ich neugierig wissen. »Ein Heilmittel für Nik?«
Jemaina warf einen kurzen Blick auf den Schlafenden und schüttelte den Kopf. »Das wage ich nicht. Es ist gut möglich, daß er besessen ist.« Sie machte das Zeichen des Bösen Auges. »Dann könnten ihm die meisten meiner Arzneien eher schaden als nützen. Nein, das hier ist für dich. Du bist doch zu mir gekommen, um nach einem Mittel gegen deine Träume zu fragen.«
Ihre Hellsichtigkeit überraschte mich noch immer, obwohl ich die Heilerin schon so lange kannte. Es hatte manchmal etwas von Zauberei.
»Komm vor dem Schlafengehen noch einmal vorbei, dann ist das Mittel fertig.« Jemainas Aufmerksamkeit wanderte wieder zu Nikal am Kamin. »Diesmal wird es gelingen«, fügte sie geistesabwesend hinzu. »Die Mischung sollte es dir erleichtern zu träumen.« Ich starrte sie ungläubig an. Hatte sie mich so falsch verstanden? Ich wollte doch, daß diese Träume endlich aufhörten!
Jemaina schob dem schlafenden Kommandanten fürsorglich ein Kissen unter den Kopf und deckte ihn mit einer leichten Decke zu. Sie wandte sich um, und in ihrem Blick lag leise Verwunderung darüber, daß ich noch immer dastand.
»Ist noch etwas?« fragte sie
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