Ellorans Traum
obere Kante sich im Dämmerlicht verlor. Ich suchte nach einer Klinke, einem Knauf, irgendeinem Griff, der es mir ermöglicht hätte, die Tür zu öffnen, aber vergeblich. Meinen suchenden Augen bot sich nur makellose, spiegelnde Schwärze. Ich hob die Hände, um gegen das Türblatt zu drücken und zog sie mit einem Schmerzensschrei wieder zurück: die Tür war eiskalt. Ich sah mein Spiegelbild vor mir, wie es die eisverbrannten Handflächen an seiner schwarzglänzenden Brust barg. Mühsam, weil meine Hände erbärmlich schmerzten, zog ich mein Hemd aus und wickelte es mir um eine Hand. So geschützt, wollte ich die Tür erneut berühren. Schon lag meine Hand fast auf dem Marmor, da durchfuhr es mich wie ein kalter Blitz: mein Spiegelbild blickte mich an, voller Angst, beide nackten Hände auf der Brust gefaltet. Seine Lippen bewegten sich in stummem Flehen: »Elloran« , las ich. »Hilf mir!«
»Was soll ich tun?« rief ich verzweifelt. Mein Ebenbild hob bittend die Hände und streckte sie mir entgegen. Ich ergriff sie, ohne zu zögern. Eisig und brennend umklammerten schwarze Steinfinger meine Hände und zwangen mich in die Knie. Ich mußte schreckensstarr mitansehen, wie meine Haut verkohlte und in blutroten Schneeflocken zu Boden schneite. Das rohe Fleisch erstarrte zu Eis und ging in kalten blauen Flammen auf. Die Knochen meiner Finger zersplitterten mit einem grausigen Klingen und zerfielen zu Asche. Meine Traumschwester sah zu, wie ich mich in Qualen wand und weinte blutige Tränen, doch der unbarmherzige Griff ihrer eisigglühenden Hände lockerte sich nicht. Ich öffnete den Mund und schrie – schrie – schrie –
Jemand riß die Tür zu meiner Kammer auf und stürzte an mein Bett. »Kleiner, was ist mit dir?« Vertraute Arme umfingen mich, und eine große, warme Hand strich mir tröstend mein schweißnasses Haar aus der Stirn.
»Nikal!« schluchzte ich. Er hielt mich fest und wiegte mich wie einen Säugling.
»Ist ja gut. Es ist doch alles gut. Du hast geträumt, Ell.« Mein Schluchzen versiegte. Er wischte mir die Tränen ab und lächelte mich an. Ich zog die Nase hoch und erwiderte sein Lächeln etwas zittrig. Nikals Gesicht sah glatt und jung aus – in dem weichen Mondlicht, das durch das Fenster fiel.
»Geht es wieder?« Ich atmete tief ein und aus und nickte. Nikal deckte mich sorgsam zu, strich mir noch einmal über den Kopf und wandte sich wieder zur Tür. Vogelkrallen bohrten sich schmerzhaft in meine Schulter. Ich wandte den Kopf und sah in Magramanirs glänzende Augen.
Sie öffnete ihren Schnabel und sagte warnend mit meiner eigenen Stimme: »Glaube nicht alles, was du siehst.« Ich verstand nicht, was sie damit sagen wollte. Die Stimme sagte: »Manche sind nicht das, was sie zu sein scheinen.« Magramanir blinzelte mir zu und verwandelte sich mit einem Aufblitzen in mein Ebenbild.
»Dummes Geschwätz!« rief Nikal ärgerlich. Ich löste meinen Blick von den Augen meiner Traumschwester und sah ihn an. Ein ersticktes Geräusch kam aus meiner Kehle. Nikal stand vor mir, aber sein Gesicht war fort. Dort, wo Augen, Mund und Nase hätten sein müssen, war nur noch glatte, helle Haut. Das Wesen trat einen Schritt auf mich zu und fragte mit Nikals tiefer, freundlicher Stimme: »Was ist los, Kleiner? Was starrst du mich so an?« Ich schrie.
»Ich bin bei dir«, sagte meine Traumschwester. Ihre Hände auf meinen Schultern griffen fester zu. »Hab keine Angst. Ich bin bei dir, Elloran. Ich bin immer bei dir. Bei dir.«
Die Hände schüttelten mich sanft. » ... bei dir, Elloran. – Elloran! Wach auf, Kind. Wach doch auf!«
Ich fuhr mit einem Ruck hoch. Malima kniete vor meinem Bett, blasser Wintersonnenschein gefiltert durch die Fensterläden, und vom Waffenhof schallte Torkals Stimme herüber. Malimas besorgte Miene entspannte sich, als ich sie anblinzelte. Ächzend stützte sie sich am Bettpfosten ab und hievte sich schwerfällig auf die Füße.
»Ich hatte schon befürchtet, das Fieber wäre wiedergekommen, so schrecklich hast du geschrien. Ist alles mit dir in Ordnung, Kind?« Ich nickte nur und schwang mich aus dem Bett. Malima ging zum Fenster und öffnete die Läden.
»Wie oft habe ich dir gesagt, du sollst diesen verflixten Vogel nicht in deine Kammer lassen«, schimpfte sie.
»Was meinst du?« Ich trat zu ihr ans Fenster. In der dünnen Schneeschicht auf dem Sims waren deutliche Abdrücke von Vogelkrallen zu sehen. Daneben lag eine von Magramanirs schwarzweißen Federn, und eine
Weitere Kostenlose Bücher