Ellorans Traum
wenigstens Erbarmen hin; seine Stirn war in krampfhaftem Nachdenken gerunzelt, und aus seinen eisigen Augen blickte ein ferner, bösartiger Geist. Mich überlief ein unkontrolliertes Schaudern. Diese minimale Bewegung reichte aus, um die Klinge tiefer in mein Fleisch zu treiben und dem ersten Tropfen ein kleines, aber stetiges Blutrinnsal hinterherzuschicken. Ich mußte mir auf die Lippen beißen, um nicht vor Panik zu schreien.
Endlich kam mein Peiniger zu einem Entschluß. Er murmelte etwas in einer Sprache, die ich nie zuvor gehört hatte, dann warf er das Messer beiseite und legte seine Hände um meinen Hals. Ich brachte noch einmal flehend seinen Namen über meine Lippen, bevor er mir unbarmherzig die Luft abdrückte. Schwärze, tiefer als die Dunkelheit des Verlieses, umfing mich und löschte meine Angst und meinen Schmerz aus.
Als ich wieder zu mir kam, war ich allem Anschein nach alleine. Nikal hatte mich gefesselt und geknebelt zurückgelassen, und die Knoten der Bandagen schienen äußerst fachmännisch geknüpft zu sein. Ich beruhigte meinen Atem und lag ganz still. Vorhin war mir – wie auch immer – das Entzünden der Lampe geglückt, vielleicht gelang es mir nun, meine Fesseln zu lösen. Wie ich es gelernt hatte, leerte ich meinen Geist und schlüpfte in die Knoten des Stoffes um meine Handgelenke. Es war wie zuvor: Keine der gelernten Zauberformeln stand zu meiner Verfügung. Aber trotzdem geschah etwas mit den Knoten, sie bewegten sich, glitten auseinander, und die Fesseln fielen lose von meinen Händen.
Ich tastete den Boden ab, und meine suchenden Finger stießen auf einige von Jemainas Gerätschaften. Die Decke, Nikals Kleider, der Wassersack, das Messer und die Lampe hingegen schienen fort zu sein. Nikal hatte mit Sicherheit den rettenden Strick wieder hochgezogen, damit seine Flucht möglichst lange unentdeckt blieb. Bis eine der Wachen hier herabstieg, um nach dem Gefangenen zu sehen, war er sicher längst über alle Berge.
Also versuchte ich erneut mein Glück und rief mit meiner inneren Stimme nach Julian. Wenig später verspürte ich seine fragende Anwesenheit in meinem Geist. Ich erklärte ihm in Gedankenschnelle die Lage. Es überraschte mich, ihn in meinem Kopf amüsiert lachen zu hören.
– Was schlägst du vor? fragte er.
– Nimm dir ein Pferd und hole Nikal ein. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich bewußtlos war, aber es kann nicht allzulange gedauert haben. Sei vorsichtig, er ist nicht er selbst. Die Gedankenverbindung begann mich zu ermüden. Deshalb fügte ich noch schnell hinzu: Und bitte, sag Jemaina Bescheid, daß ich hier unten festsitze. Sie muß mich unbedingt rausholen, ehe Bort wieder aufwacht.
Julians Lachen klingelte durch meinen Geist, und er übermittelte seine Zustimmung. Dann brach die Verbindung ab, und ich sank übergangslos in einen erschöpften Schlaf.
Wir standen am sonnenbeschienenen Flußufer und hielten uns an den Händen. Ihre Schulter lag an meiner, und unsere verschlungenen Hände glichen sich so sehr, daß ich nicht unterscheiden konnte, welche Finger zu ihrer Hand gehörten und welche die meinen waren. Schweigend gingen wir den Treidelpfad entlang – hier bin ich schon einmal mit jemandem gegangen, glitt ein Gedanke wie ein kleiner silbriger Fisch durch meinen Kopf und war fort. Ich wandte den Kopf und sah sie an. Sie schaute ernst vor sich hin, aber als sie meinen Blick spürte, drehte sie sich zu mir, und ein Lächeln erhellte ihr sommersprossiges Gesicht. Erneut hatte ich das verwirrende Gefühl, in einen Spiegel zu sehen, nur daß dieses Spiegelbild unzweifelhaft das einer Frau war.
»Wie kann ich dich finden?« fragte ich.
»Du kannst mich erst finden, wenn du dich aufgemacht hast, mich zu suchen. Bitte, Elloran, warte nicht zu lange. Sie wollen uns trennen, und es wird ihnen gelingen, wenn du zögerst.« Ihre Miene wirkte angespannt und ein wenig ängstlich. »Elloran, uns bleibt nicht mehr viel Zeit!«
Ein Schauer überlief mich, und ich wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Meine rechte Hand sandte mir seltsame Zeichen. Ich blickte hinab, und dort, wo eben noch zwei Hände gewesen waren, die einander festhielten, entdeckte ich jetzt nur noch eine einzige, an einem einzigen Arm, der uns beiden gemeinsam zu gehören schien. Ich erkannte meine Hand und meinen Arm; und dennoch waren es zugleich die schlanken Glieder meiner Traumschwester. Noch während ich ungläubig hinblickte, setzte sich die seltsame Verschmelzung fort. Ich
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