Ellorans Traum
könnten in den nächsten Tagen gut noch ein Paar Hände gebrauchen.« Ihr Vater knurrte und sah mich abschätzend an. Plötzlich fühlte ich mich von acht Augenpaaren aufgespießt. Ich rutschte unbehaglich auf der Bank hin und her.
»Was meinst du?« fragte er seine Frau. Die blickte mich mitleidig an und antwortete: »Er scheint krank zu sein, oder er war es vor kurzem. Sieh dir seine Augen an und das blasse Gesicht. Ich glaube nicht, daß er schon auf dem Feld arbeiten sollte.« Der Bauer legte den Kopf schief.
»Und du, was denkst du?« wandte er sich plötzlich an mich. Ich zuckte zusammen, so sehr hatte ich mich schon daran gewöhnt, daß über mich gesprochen wurde, als wäre ich ein Besen oder ein krankes Schaf. Ich bewegte meine Hände, als würde ich eine Garbe binden und nickte. Der Bauer sah mir streng in die Augen, dann lächelte er zum ersten Mal und klopfte mir auf die Schulter.
»Gut, abgemacht, Junge. Du hilfst uns bei der Ernte, dafür bekommst du einen schönen Schlafplatz und gut zu essen. Und damit Leena nicht böse wird«, er warf seiner Frau einen schnellen Blick zu, »wirst du erst einmal nur meinen Kleinen bei ihren Aufgaben helfen. Wir päppeln dich schon noch auf, bis du Männerarbeit tun kannst.«
Uliv, der Bauer, und seine Frau Leena taten wahrhaftig ihr Bestes, um mich ›aufzupäppeln‹, wie er es genannt hatte. Uliv entpuppte sich als genauso gutherzig wie die Bäuerin. Am nächsten Morgen war nicht einmal mehr die Rede von Feldarbeit. Mir wurde streng verboten, mein Strohlager zu verlassen, und eine der älteren Töchter, Anik, kam von Zeit zu Zeit, um nach mir zu sehen. Obwohl ich geglaubt hatte, nie wieder schlafen zu können, verschlief ich letzten Endes fast den ganzen Tag. Als gegen Abend die Familie vom Feld zurückkehrte, fühlte ich mich zum ersten Mal seit Tagen wieder kräftig und unternehmungslustig. Allein der Verlust meiner Sprache bedrückte mich. Es mußte eine späte Folge der Gehirnerschütterung sein und hatte sich offenbar in diesem vorangegangenen beunruhigenden Stottern angekündigt. Jetzt fragte ich mich natürlich, ob dieser Zustand ein vorübergehender oder von Dauer sein würde. Was hätte ich nun für Akims mürrische Anwesenheit gegeben. Aber in Kronstadt würde es sicher von kundigen Heilern wimmeln, die mir raten konnten.
Also saß ich stumm inmitten der schwatzenden, kichernden Mädchenschar am Tisch und beschränkte mich aufs Zuhören und Beobachten. Hin und wieder spürte ich den taxierenden Blick Rhians, der Ältesten, auf mir ruhen. Es berührte mich seltsam, daß sie den Mutternamen meiner Großmutter trug. Magali, die Kleinste, krabbelte auf meinen Schoß und sah mich sehr ernsthaft an. Sie steckte einen Finger in den Mund und bohrte hingebungsvoll darin herum.
»Kannst du gar nicht sprechen?« nuschelte sie undeutlich. Ich schüttelte lächelnd den Kopf. »Überhaupt nie nicht?« fragte sie weiter. Ich hob die Schultern und zog eine Grimasse. Sie kicherte. Ich blickte sie finster an und schielte. Sie kreischte auf, patschte begeistert auf den Tisch und forderte: »Noch mal, noch mal!« Ich tat ihr den Gefallen und schnitt ihr Gesichter, bis sie, vom Lachen müde, sich bequem auf meinem Schoß zusammenrollte und einschlief, den Daumen im Mund. Ich legte meine Arme um sie und fühlte eine unerklärliche Traurigkeit. Leesas Blick ruhte freundlich auf mir, und sie sagte leise, um das Kind nicht zu wecken: »Ist sie dir auch nicht zu schwer?« Ich schüttelte den Kopf.
Der Bauer stand auf und streckte seine Glieder. »Ab mit euch ins Bett«, sagte er. »Morgen wird ein harter Tag. Hoffentlich gibt es keinen Regen.« Er legte mir eine Hand auf die Schulter und wandte sich zum Gehen. Ich hielt ihn fest und versuchte ihm zu sagen, daß ich morgen zur Ernte mitkommen wollte. Meine Lippen formten Worte, aber wieder entrang sich meiner Kehle nur ein äußerst demütigendes Grunzen. Die Kinder kicherten, und Uliv sah mich mitleidig an, was die ganze Sache noch schlimmer machte. Ich wurde rot und gestikulierte hilflos. Er warf einen hilfesuchenden Blick zu seiner Frau, die genauso ratlos aussah.
Doch seine Tochter Rhian verstand mich. Sie brachte mir einen angebrannten Span vom Herdfeuer und drückte ihn mir in die Hand. Erwartungsvoll drängten sich die Mädchen um mich, als ich jetzt auf die Tischplatte kritzelte: Ich will helfen . Der Bauer schüttelte bedauernd den Kopf und grinste verlegen. Mir wurde klar, daß er nicht lesen konnte, und ich
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