Ellorans Traum
freundlichen Gesicht trat heraus. Mißtrauisch musterte sie mich aus runden blauen Augen.
»Ruhig, Wolf. Platz!« befahl sie und stemmte die molligen Arme in die Seiten. Der struppige Hund gehorchte knurrend. Ich trat einen Schritt auf sie zu und öffnete den Mund, um ihr einen guten Abend zu wünschen und nach einem Schlafplatz in der Scheune oder im Stall zu fragen. Aber keine verständliche Silbe wollte sich von meinen Lippen lösen. Ich stieß einige unartikulierte Laute aus und verstummte hilflos. Meine Beine gaben unter mir nach, und ich mußte mich am Gatter festhalten, um nicht umzusinken. Das Gesicht der Bauersfrau wurde weich.
»Ihr Götter, du armes Kind!« sagte sie mitleidig. »Kannst du verstehen, was ich sage?« Ich nickte verzweifelt. »Du siehst halb verhungert aus. Komm herein, ich mache dir etwas zu essen.« Sie hielt einladend die Tür auf, und ich trat dankbar in die niedrige, dämmerige Stube.
Sie schnitt daumendicke Scheiben Brot von einem wagenradgroßen Laib herunter, bestrich sie ordentlich mit Butter und legte mir ein großes Stück Käse dazu. Dann setzte sie sich neben mich auf die Bank ans Herdfeuer und sah zu, wie ich aß. Während der ganzen Zeit redete sie auf mich ein wie auf ein krankes Kalb. Ich erfuhr, daß der Bauer und sie mit einer Schar von halbwüchsigen Töchtern den Hof bestellten, daß sie alle noch auf dem Feld bei der Ernte waren, und daß die Bauersfrau nur deshalb nicht mithalf, weil eines ihrer Schafe am Vortag von einem streunenden Hund angefallen und verletzt worden war und sie deshalb früher nach Hause zurückgekehrt war, um nach ihm zu sehen. »Und was für ein Glück war das«, endete sie befriedigt, »denn was hättest du sonst wohl getan, du armes krankes Lämmchen.« Sie strich mir etwas verlegen über die Hand, und ich lächelte sie dankbar an. Der Hund schlug an, und von draußen erklangen junge Stimmen und fröhliches, helles Gelächter. Die Bauersfrau stand auf und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Ihr rotwangiges Gesicht strahlte.
»Da kommen meine Lieben«, sagte sie vergnügt und setzte Wasser auf. Die Tür schwang auf, und eine lautstarke Schar weizenblonder Mädchen stürmte herein. Die Älteste mochte etwa in meinem Alter sein, und dann waren da noch fünf weitere bezopfte Köpfe, die sich wie die Halme einer Rohrflöte nebeneinander aufbauten und mich stumm anstaunten.
»Wer ist das, Mamu?« fragte vorlaut die Kleinste, die vier oder fünf Jahre alt sein mochte, und bekam sofort von der nächstälteren einen Klaps auf die zeigende Hand.
»Schu, Magali. Kinder, laßt unseren Gast in Ruhe«, schimpfte die Bauersfrau lächelnd. Hinter ihr klappte erneut die Tür, und ein kräftiger, rundschädeliger Mann trat in die niedrige Stube. Er hängte seinen verblichenen Hut ordentlich an einen Haken und kam dann zum Feuer, einen fragenden Ausdruck auf seinen groben Zügen. Die Frau wandte sich ihm zu und sagte leise: »Ein stummer Junge. Ich wollte ihn nicht fortjagen, er scheint krank zu sein.« Sie sah ihren Mann bittend an. Der blickte auf mich, und sein zerfurchtes Gesicht wirkte nicht freundlich. Ich stand auf und dankte der Frau, indem ich ihre Hand nahm und einen Kuß auf die roten, rauhen Finger drückte. Die blonden Mädchen standen stumm und gafften. Nur die Älteste kümmerte sich nicht um uns, sie hantierte am Herd herum.
Ich griff nach meinem Bündel und lahmte zur Tür. Die Frau, mit rotübergossenem Gesicht, stieß einen empörten Laut aus und knuffte ihren Mann wütend in die Seite. Ihre jüngste Tochter zupfte ihn am Ärmel und flüsterte etwas. Dann verbarg sie verlegen ihr Gesicht in der Schürze ihrer Mutter. Der Bauer brummte leise: »Weiber!« und setzte dann laut hinzu: »Junge, du kannst meinetwegen über Nacht hierbleiben. In der Scheune ist Platz, genug. Aber nur bis morgen!« Er warf seiner Frau einen drohenden Blick zu. Die lächelte nun wieder und gab ihm einen schmatzenden Kuß. Ich ließ erleichtert mein Bündel fallen. Die Aussicht auf eine Nacht im Freien war mir nicht angenehm gewesen, ganz ohne die Gesellschaft meiner Reisegefährten. Die Frau winkte mir, daß ich mich wieder setzen sollte. Ihre Tochter stellte mir einen Becher mit Tee hin. Ihre Hand streifte meinen Arm, und ein kühler Blick traf mich und mein eher schäbiges Äußeres.
»Vielleicht kann er uns bei der Ernte helfen«, bemerkte sie beiläufig, während sie mit der Kanne herumging und allen einschenkte. »Er sieht doch ganz kräftig aus. Wir
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