Elsa ungeheuer (German Edition)
Felsen gekettet. Nackt, bis auf ein weißes Tuch, das um ihre Hüften geschlungen ist. Leicht verrutscht, entblößt es rechts den Ansatz ihrer Scham. Gespenstisch blass die Haut. Ein steinerner Vorsprung verdeckt den unteren Teil ihrer Beine. Den Kopf hat sie zur Seite gewendet. Entsetzen in ihrem Blick.
Sie war wahrlich keine Schönheit, Rembrandts Andromeda. Meine Aufmerksamkeit wanderte von dem Bild zu Elsa, die neben mir stand. Ich spürte, dass sie den Atem anhielt. Ihr Gesicht wirkte fast so bleich wie das des gemalten Mädchens. Doch ehe ich sie fragen konnte, was los war, ergriff Irina Graham das Wort.
»Kennt ihr Andromedas Geschichte?«
»Nein«, antworteten wir einstimmig.
»Sie war die Tochter des äthiopischen Königs Kepheus und seiner Frau Kassiopeia. Kassiopeia behauptete von sich, sie sei schöner als die Nereiden – das sind Meeresnymphen, die Begleiterinnen des Meeresgottes Poseidon. Um Kassiopeia für ihren Hochmut zu bestrafen, sandte Poseidon eine Flutwelle, die das Land zerstören sollte. Nur wenn das Königspaar seine Tochter Andromeda dem Seeungeheuer Ketos opferte, könnte die Vernichtung doch noch abgewendet werden. Also kettete man das Mädchen an einen Felsen und überließ sie ihrem Schicksal.«
»Andromeda hat doch gar nichts getan, warum soll sie geopfert werden? Sie ist unschuldig.« Elsa klang aufgebracht.
»Es sind immer die Unschuldigen«, antwortete Mrs. Graham und erzählte weiter. »Bevor das Monster Andromeda töten konnte, erschien der Held Perseus auf seinem fliegenden Pferd. Er kämpfte mit dem Ungeheuer, rettete die Königstochter und nahm sie zur Frau.«
»Und wo ist dieser Typ mit dem fliegenden Pferd?« Jetzt überschlug sich Elsas Stimme.
»Er ist noch nicht da. Gemeinhin behauptet man, Andromedas Befreiung sei der Höhepunkt ihrer Geschichte. Aber Rembrandt hat sie als gottverlassenes, verängstigtes Mädchen gemalt. Ich befürchte, Perseus wird zu spät kommen, um sie wirklich zu retten.«
»Aber sie überlebt doch!«, protestierte ich.
Mrs. Graham nickte.
»Aber wenn sie überlebt, dann…«, setzte ich noch einmal an.
»Dieser Moment überlebt auch«, sagte Irina und deutete auf das Bild. Nach einer Pause fuhr sie fort. »Ich würde meine ganze Sammlung dafür hergeben.«
»Warum kaufen Sie es nicht einfach?«, fragte Lorenz.
»Man kann es nicht kaufen.«
Ich musste an die nackten Wände ihrer Villa denken. »Würden Sie es denn zu Hause aufhängen?«
»Nein. Ich würde Andromedas Ketten durchtrennen.«
»Ich auch«, flüsterte Elsa.
»Seht ihr den Stein, der ihre Waden, Fesseln und Füße verdeckt? Man hat das Bild geröntgt und festgestellt, dass Rembrandt ihn nachträglich gemalt hat. So ein kleines Bild und so viele Geheimnisse…«
Elsa zitterte.
Am Abend kamen die Mirbergs zurück.
Würde man Warren Beattys Gesichtszüge, all das, was einem beim Namen Al Capone in den Kopf schießt, und eine Portion der spröden Ausstrahlung von Elsas Vater zusammenmischen, Sebastian Mirberg wäre das Ergebnis.
Ende dreißig, hochgewachsen. Sein Fünftagebart, der wohl eine gewisse Lässigkeit zum Ausdruck bringen sollte, war akkurat zurechtgestutzt. Das dunkelbraune, dichte Haar mit Bedacht zerzaust. Sein Lächeln offenbarte zwei makellose Zahnreihen. Der Körper durchtrainiert, bis auf einen kleinen Bauchansatz, der sich unter seinem anthrazitfarbenen Hemd abzeichnete.
Obwohl Vera Mirberg gut zehn Jahre jünger als ihr Mann war, fehlte ihrem ebenmäßigen, hübschen Gesicht jegliche Frische. Dunkle Schatten unter den grünen Augen. Die vollen Lippen rauh und aufgesprungen. Vera war schlank und fast genauso groß wie Sebastian. Das kurze, weit ausgeschnittene gelbe Seidenkleid brachte ihre langen Beine und den üppigen Busen zur Geltung. Sie hatte alles, was eine Frau gemeinhin attraktiv erscheinen ließ, besaß aber nicht mehr Charisma als ein toter Fisch.
Vor dem Dinner versammelten wir uns im Wohnzimmer. Nur die Hausherrin fehlte. Mirberg fragte uns Kinder nach Namen und Alter. Er machte Elsa ein Kompliment über ihre Kette: »Das ist aber ein hübsches Hündchen.« Dann ließ er uns stehen und widmete sich Randolph.
Vera saß, die Beine übereinandergeschlagen, eine Zigarette in der linken und mit der rechten Hand ihre Schläfe massierend, neben Jaap auf einem Ledersofa. Die Stimme des Onkels war ein gleichmäßiges Rauschen.
»Das sind adlige Waden und Fesseln«, flüsterte Elsa mir zu und deutete in Veras Richtung. »So will ich sie
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