Elsa ungeheuer (German Edition)
wusste ich damals nicht, wie jemand aussah, der geradewegs vom Kinderstrich kam, aber ich ahnte, dass Mirberg sie beleidigt hatte. In diesem Moment hoffte ich, dass Veras Vergeltung grausam sein würde.
Das Murmeltier war überglücklich, uns wiederzuhaben, und selbst die Kratzlerin zeigte echte Freude.
Auf Elsa wartete eine Überraschung. Das erste Lebenszeichen der Weltreisenden, eine Postkarte aus Madagaskar. Vorne drauf ein weißes Äffchen.
Liebe Elsa,
Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie bezaubernd Lemuren sind!!! Unser nächstes Ziel heißt Papua-Neuguinea. Ich liebe diesen Namen. Papua-Neuguinea, klingt das nicht verheißungsvoll? Ich schreibe bald wieder.
P.S.: Viktor lässt Dich grüßen.
Die Postkarte trug Elsa stets bei sich. Ein ums andere Mal las sie die spärlichen Sätze ihrer Mutter wieder. Hochkonzentriert, Wort für Wort, als gälte es, eine geheime Botschaft zu entschlüsseln.
Nach den Ferien besuchte auch ich das städtische Gymnasium.
Schon bald wurde ich Zeuge einer jener legendären Prügeleien: Elsa und mein Bruder besiegten auf dem Schulhof fünf großgewachsene Jungs. Einerseits empfand ich Stolz, andererseits konnte ich nun mit eigenen Augen sehen, dass da etwas zwischen Elsa und Lorenz war, an dem ich keinen Anteil hatte.
Doch als im Herbst Schweine-Willi anrückte, wählte Elsa mich und nicht meinen Bruder zu ihrem Begleiter. Vielleicht gab sie auch nur mir den Vorzug, weil sie wusste, dass ich ihr überallhin folgen würde.
»Also, Fetti, ich will ihn nicht sehen. Tagsüber gehen wir zum See und abends zu mir. Verstanden?«
Es war kalt. Wir saßen auf unserer Lichtung. Elsa hatte trotzdem nur Stiefel, Krawatten und ein blaues Sommerkleidchen an. Sie zitterte, ich gab ihr meine Jacke. Sie zitterte noch immer, ich gab ihr meinen Pullover. Und dann zitterte ich. Elsa rutschte näher an mich heran und schlang meine Jacke um uns beide.
»Glaubst du, in Papua-Neuguinea scheint jetzt die Sonne?«, fragte sie.
»Keine Ahnung, wo ist das Papa-Dings überhaupt?«
»Im Meer. Ist ’ne Insel.«
»Dann scheint da sicher die Sonne.«
»Wahrscheinlich liegen sie gerade am Strand.«
»Ja, und essen Kokosnüsse.«
»Warum Kokosnüsse, Fetti?«
»Weiß nicht. Oder Eis.«
Elsa umklammerte den Anhänger ihrer Kette. Die Hand bebte. Das Beben weitete sich aus, erfasste ihren ganzen Körper.
»Mein Kind werd ich niemals alleine lassen. Es wird immer bei mir sein, und ich werde es beschützen. Und ich werde es sicher nicht zu den Gröhlers bringen.« Ihre Stimme dröhnte vor Zorn.
»Du hast doch gar kein Kind, Elsa.« Ein ungeschickter Versuch, sie zu beruhigen.
»Aber wenn ich eins habe, dann werde ich es niemals alleine lassen. Niemals!« Sie sprang auf und rannte durch das Schilf ins Wasser.
Ich stürzte ihr hinterher. Im Laufen entledigte ich mich meiner Kleidung, damit Elsa etwas Trockenes zum Anziehen haben würde, sobald ich sie aus dem See gefischt hätte. Die Unterhose behielt ich an.
»Du wirst erfrieren. Komm raus, Elsa!« Sie reagierte nicht. Ich stand bis zu den Knien im eiskalten Wasser, tauchte unter und schwamm so schnell ich konnte zu ihr hin. Nach einer Ewigkeit kreuzte ich Elsas Bahn, streckte meinen Arm aus und griff nach ihrem. Sie strampelte mit den Beinen, sie sah mich an. Und wenn ich heute an diesen Herbsttag zurückdenke, an Elsas Gesicht, so fällt mir nur ein einziges Wort ein: untröstlich.
Ich schnappte nach Luft. »Bitte. Elsa. Bitte.« Mehr brachte ich nicht heraus.
Am Ufer sammelte ich meine Sachen ein. Das blaue Fähnchen und der Pullover klebten an Elsas Körper. In den Stiefeln platschte das Wasser.
Ich reichte ihr mein Unterhemd zum Abtrocknen und die restlichen Klamotten zum Wechseln. Nur das T-Shirt zog ich mir über.
»Wehe, du glotzt, Fetti«, sagte sie und zog sich aus.
In der Nacht bekam ich Fieber. Mit Wadenwickeln und Hühnerbrühe bekämpfte die Kratzlerin meine hohe Temperatur.
Erst am übernächsten Tag, als Schweine-Willi sein Zimmer in unserem Fast-Hotel geräumt hatte, sah ich Elsa wieder. Die Stiefel waren getrocknet, und auch sonst hatte das kalte Seewasser Elsa keinen Schaden zugefügt.
Lorenz saß auf dem Boden vor meinem Bett, sie hockte sich neben ihn.
»Geht es dir sehr schlecht?«, fragte Elsa.
Ich schüttelte den Kopf und freute mich über das Fünkchen Besorgnis in ihrer Stimme.
»Schweine-Willi hat nach dir gefragt«, sagte Lorenz.
»So? Und was genau hat er gefragt?«
»Er wollte wissen, wo das mutige
Weitere Kostenlose Bücher