Elsa ungeheuer (German Edition)
Flamingo-Mädchen ist.«
»Und was hast du gesagt?«
»Dass du dich vor ihm versteckst.«
»Wie kannst du nur!«, stieß sie aus und schlug ihm mit der flachen Hand auf den Kopf. »Ich habe mich nicht versteckt. Ich hatte nur keine Lust, ihn zu sehen, weil er dumm ist. Genau wie du.«
Lorenz warf sich auf sie und zerrte an ihren Haaren. Immer noch erschreckte mich die Brutalität, mit der die beiden aufeinander loszugehen pflegten.
Zwei Tage vor Weihnachten weckte mich das Murmeltier in aller Herrgottsfrühe. »Karl, aufstehen, aufstehen. Schnell. Lauf los, sag deinem Bruder Bescheid, und dann hol Elsa. Es ist so weit. Ich habe Erkenntnis erlangt.«
Sogleich stürmte ich die Treppen hinunter, in Lorenz’ Zimmer hinein und rüttelte ihn wach. »Das Murmeltier hat Erkenntnis erlangt«, rief ich atemlos.
In Schlafanzug und Hausschuhen rannte ich durch den Schnee zu den Gröhlers. Wie schnell mich meine dicken Beinchen trugen. Ich riss das grüne Gartentor auf, erklomm den Hügel und klopfte gegen das Erkerfenster. Erst sachte, dann immer fester, bis Elsa öffnete.
»Bist du verrückt geworden, Fetti«, schnauzte sie mich an.
»Das Murmeltier hat Erkenntnis erlangt!«
Ein Freudenschrei. Elsa schnappte sich die alten Holzclogs und kletterte aus dem Fenster. Mehr als einmal rutschten wir aus. Und jeden Sturz quittierten unsere vor Adrenalin leicht gewordenen Körper mit einem hysterischen Lachanfall.
Keuchend kamen wir zu Hause an. Die Kratzlerin, mittlerweile auf den Beinen, versuchte uns aufzuhalten. »Herzjesulein im Himmel. Was ist denn los, um Gottes willen? In Schlafsachen! Kinder! Es schneit draußen. Und…«
»Das Murmeltier hat Erkenntnis erlangt«, riefen wir im Chor und drängten uns an ihr vorbei.
So musste sich Moses kurz vor der Verkündung der Zehn Gebote gefühlt haben.
In einer Reihe saßen wir drei auf meinem Bett, die Augen auf das Murmeltier gerichtet.
Eine glühende Zigarre in der Hand, schritt er auf und ab. Endlich blieb er stehen und sah uns an.
»Vor vielen Jahren habe ich mich aufgemacht. Ein junger Mann mit einem vollständigen Gebiss, bereit, sich den Stürmen des Lebens zu stellen. Bereit, seine Träume und Wünsche wahr werden zu lassen. Welche Heldentaten ich vollbringen wollte? Ich erinnere mich nicht mehr. Denn noch ehe die erste Brise Abenteuerluft mein damals schwarzes Haar zerzausen konnte, zog mich eine gottverdammte Schnalle in ihr Schlafgemach. Zwischen ihren Beinen und all den Schenkeln und Brüsten, die folgen sollten, vergaß ich die Stürme des Lebens.
Eine Nacht, sieben Nächte, tausend Nächte brachte ich sie zum Glühen, zum Seufzen, zum Stöhnen, während ihre Ehemänner, ihre zukünftigen Gatten der Welt die Stirn boten. Und dann kam das Erwachen. Da stand ich nun: ein alter Mann, ergraut, mit drei Zähnen weniger, unfähig, Lust zu schenken. Kein Zuhause, kein Besitz, kein Orden am Revers. Einen armen Teufel haben die elenden Weiber aus mir gemacht, dachte ich – bis heute.
Denn jetzt weiß ich, dass sie mir das Kostbarste geschenkt haben: In ihren Betten durfte ich meine Unschuld bewahren.
Wer wäre ich geworden, hätte ich meine Ziele verfolgt, meine Pläne verwirklicht? Was hätte ich der Welt angetan? Und wäre ich stark genug gewesen, meine Unschuld auch durch die Stürme des Lebens zu retten? Die wenigsten schaffen es, da draußen, wo der Schatten eines Hundes kaum von dem eines Wolfes zu unterscheiden ist. Die wenigsten.
Das ist meine Erkenntnis! Ich bin ein reicher Mann.«
Das Murmeltier verbeugte sich feierlich.
»Aber du… du hast doch deinen Pimmel in die Weiber reingesteckt. Da geht doch die Unschuld weg«, sagte Lorenz.
Elsa und ich nickten stumm.
»Wer erzählt euch so einen Schwachsinn? Wer? Glaubt das ja nicht. Wenn ihr die Unschuld zwischen euren Beinen wähnt, dann seid ihr verloren.«
Randolph Brauer brachte von seinem Neujahrsspaziergang ein Tigerkätzchen mit. Unser Vater und der Esel hatten das halbverhungerte Tier, das sie im Schnee entdeckt hatten, sofort in ihr Herz geschlossen.
»Randolph, du bist ja schlimmer als die Kinder. Herzjesulein im Himmel, wer weiß, was das Viech für Krankheiten hat! Läuse und Flöhe. Wo soll es denn hin?«
Unser Vater versuchte die Kratzlerin zu beruhigen. Er erklärte ihr, dass das Kätzchen kein eigenes Zimmer benötige, sondern beim Esel einziehen würde.
Obwohl Randolph sich aufopfernd um unsere neue Mitbewohnerin kümmerte, schloss die verwahrloste Katze nicht ihn, sondern Elsa in
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