Elsa ungeheuer (German Edition)
ihren Block auf den eisernen Nachttisch, stand auf und schloss die Tür hinter sich.
»Also?«, fragte Mirberg.
»Lorenz«, begann ich meinen Satz, unschlüssig, ob ich Sebastian duzen oder siezen sollte.
»Was, Lorenz?«
»Kannst… Werden Sie…«
»Was kann oder werde ich?«
»Werden Sie Lorenz irgendwann verzeihen und…«
»Ich? Ich werde ihm nicht nur nicht verzeihen. Ich werde Steine, Granitblöcke in seinen Weg legen.«
»Haben Sie doch schon. Reicht das nicht?«
Er hielt seine rechte Hand hoch und zählte mit den Fingern. »Eins, zwei, drei, vier. Vier Zähne. Ich glaube, es reicht noch nicht. Noch lange nicht. Auf Wiedersehen. Da geht es raus.«
Auf dem Flur lief ich Alin in die Arme. Unmöglich, sie anzuschauen, ohne an Mirbergs Spermatropfen auf ihren lächelnden Lippen zu denken.
Sie stellte sich mir in den Weg. »Dein Bruder hat sich wirklich wie ein Unhold aufgeführt.«
»Wie bitte?«
»Ein Unhold. Ein Arschloch.«
»Alin, denk mal bitte scharf nach. Wer ist hier das Arschloch?«
Wir saßen in Irina Grahams Wohnzimmer. Ich in einem niedrigen, weichen Sessel, der mich minütlich tiefer in sein Polster hineinzuziehen schien, und sie in ihrem motorisierten Rollstuhl.
Mrs. Graham sah mich gelangweilt an, oder besser gesagt, sie sah gelangweilt an mir vorbei, während ich die Ereignisse der letzten Monate aus meiner Perspektive schilderte.
»Und?«, fragte sie, als ich meinen Bericht beendet hatte.
»Mirberg hat dafür gesorgt, dass Lorenz aus der Akademie fliegt, dass Frenzen nicht mehr mit ihm spricht, und auch Sie haben das Interesse an ihm verloren.«
»Und?«
»Ich möchte Sie bitten, Mirberg zu sagen, dass er aufhören soll.«
»Ich?«
»Ja.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil… weil es nicht fair ist.«
»So? Nicht fair? Ein Mann rettet acht Menschen aus einem brennenden Haus. Noch einmal stürzt er sich in die Flammen, um auch die Katze vor dem Feuertod zu bewahren. Er schafft es. Das putzmuntere Tier in den Armen, sinkt er auf die Knie und erleidet einen Schlaganfall. Er ist sofort tot. Nicht fair, oder?
Eine wohlhabende Frau verleiht großzügig hohe Geldbeträge. Nur wenige begleichen ihre Schulden. Eines Tages ist diese weitherzige Dame komplett ruiniert. Niemand hilft ihr. Sie stirbt allein. Ein letzter Atemzug. Ihr Magen knurrt. Nicht fair.
Ein Roter Apollo, ein rarer, vom Aussterben bedrohter Schmetterling, zeigt sich einem Liebespaar, das sich gerade küsst. Ein seltenes Geschenk. Der Mann sieht das Tier, fängt es und spießt es zu Hause als Andenken auf. Nicht fair. Nicht fair! Reicht das?«
Ich nickte.
»Fairness kann man nicht erwarten. Aber es gibt ein paar einfache Regeln, die einem das Leben erleichtern. Meist klingen sie banal und einfältig, das täuscht. Eine dieser Regeln, vielleicht die wichtigste für jemanden, der hoch hinauswill, lautet: ›Beiß niemals die Hand, die dich füttert.‹
Dein Bruder hat die Hand nicht nur gebissen, sondern an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen.«
»Was meinen Sie damit?«
»Schlag einem eitlen Mann nicht die Zähne aus!« Sie betonte jede Silbe überdeutlich.
»Mrs. Graham, aber ein Wort von Ihnen würde genügen…«
Lächelnd hob sie die Hand und gebot mir zu schweigen. »Mag sein. Aber ich halte mich auch an Regeln: Loyalität! Mirberg ist mein Berater, mein Freund, mein Äffchen. Lieber Junge, was mit deinem Bruder geschieht, ist mir vollkommen gleichgültig.«
Draußen plätscherte heftiger Regen und drinnen, im Gartenhäuschen, Jaaps Stimme.
»Mrs. Graham will, dass ich den Rasen ausreiße«, sagte er.
»Und was soll stattdessen kommen?«
»Nichts. Erde.«
»Ist sie eigentlich verrückt?«
»Nein, nur gnadenlos.«
Eine Gestalt huschte über die grüne Fläche. Ohne anzuklopfen, trat Vera Mirberg ein.
»Ein Spaziergang, Karl?«
Sie führte mich zu einer einsamen Bank am Rand des Grahamschen Grundstücks.
»Ich habe sie im Sommer aufgestellt. Irina hat es bisher nicht bemerkt«, sagte Vera. Der Regen durchnässte innerhalb von Minuten unsere Kleidung. Während ich zitterte, schien das kalte Wasser ihr nichts anhaben zu können. »Du warst bei Mirberg?«
»Ja.«
»Ich habe ihn gestern besucht. Er hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine neue Gespielin vor mir zu verstecken. Aber es geht ihm schlecht, das freut mich.«
»So hat es wenigstens etwas für sich. Du hast deine Rache«, sagte ich.
Sie sah mich verständnislos an. »Karl, eine Zahnlücke ist keine Rache, und
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