Elsa ungeheuer (German Edition)
verschicken, um sich ihren Mitmenschen ins Gedächtnis zu rufen, versandte Mirberg sein Märchen für Erwachsene.
Galeristen, Kuratoren, Künstler, Museumsdirektoren wurden – ob sie der deutschen Sprache mächtig waren oder nicht – mit einem signierten Exemplar bedacht.
Beiß niemals die Hand, die dich füttert! Fast hätte man Mitleid mit Sebastian Mirberg bekommen können, denn er ahnte nicht einmal, dass er zugebissen und die Hand an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen hatte.
Irina Graham empfand Dr. Lupus als die höchsterdenkliche Beleidung gegen ihre Person. Das Machwerk verhöhnte alles, was ihr heilig war. Alles, das hieß: Rembrandts Andromeda. Und ausgerechnet ihr Berater, ihr Freund, ihr Äffchen hatte es gewagt, sie auf diese Weise zu kränken.
Mirbergs Beteuerungen, dass er nichts dergleichen im Sinn gehabt habe, dass sein Buch vielmehr eine Hommage an Andromeda sei, konnten Irinas Zorn nicht besänftigen.
Ihre Unerbittlichkeit ließ Sebastian Mirberg wiederum in Rage geraten. Auf seine vergeblichen Entschuldigungen folgten wüste Anschuldigungen. Mirberg nannte Irina dem Irrsinn nah, weltfremd, eine Fanatikerin, und erklärte ihr, dass sie ohne ihn verloren sei. Schließlich kümmere er und nur er sich um die Sammlung der Grahams. Als autistisch bezeichnete er Irinas Verehrung für Rembrandts vielleicht unbedeutendstes, ganz gewiss scheußlichstes Werk.
Seelenruhig lauschte Irina Graham seinen minutenlangen Tiraden. In der Stille, die darauf folgte, erhob die alte Dame sich aus ihrem Rollstuhl und geleitete Sebastian Mirberg zur Tür.
Bumm. Bumm. Bumm. Bumm.
Mit einem Elan, den wohl niemand der 82-jährigen Mrs. Graham zugetraut hätte, machte sie sich daran, ihr Äffchen zu bestrafen.
Sie ließ seine Kreditkarten sperren und unterrichtete sämtliche Galeristen, Kuratoren, Künstler und Museumsdirektoren davon, dass Mirberg nicht mehr als ihr Berater fungiere. Einladungen und Mitteilungen möge man zukünftig direkt an sie richten.
Niemand anders als Vera Mirberg stand der alten Dame zur Seite. Ein gemeinsamer Feind knüpft Bande.
Der englische Rasen war verschwunden. Braune Erde, mit Schnee überzuckert, so weit das Auge reichte.
Während mein Bruder erklärte, wie sich sein Vorhaben, die Ewigkeit festzuhalten, weiterentwickelt hatte, schritten Vera und Irina im Wohnzimmer auf und ab. Beides mutete seltsam an, die aufrecht gehende Mrs. Graham und das frisch geschlossene Frauenbündnis.
»Gut«, sagte Irina, als mein Bruder seinen Vortrag beendet hatte. »Alles schön und gut. Ein einziges Werk, also. Nur die Zeit ist ein Problem. Wie lange wird es dauern, bis es vollendet ist?«
»Ein halbes Jahr pro Bild… 43 Jahre. Und noch weiß ich nicht, wie ich die einzelnen Schichten unversehrt erhalten kann.«
»Dafür wird sich eine Lösung finden. Aber 43 Jahre? Zu lang, viel zu lang. Selbst zehn sind zu lang!«
»Zu lang für was?«
»Für uns. Wir möchten der Kunstwelt ihren nächsten Wunderknaben schenken.« Sie lächelte. »Dem Knabenalter bist du fast entwachsen. Also schlicht und ergreifend: das nächste Wunder. Aber nicht erst in 43 Jahren.«
»Ein Wunder, ich?«
»Manchmal geschehen Wunder, und manchmal brauchen sie Starthilfe.«
»Und wie wollen Sie…«
»Müssen es 86 Motive sein?«, schnitt Irina meinem Bruder das Wort ab.
»Ja.«
»Und das Format? Warum diese Dimension?«
»Ich kann es sehen, und wenn es fertig ist… Vielleicht wird es tatsächlich ein Wunder sein. Das, was in meinem Kopf ist…«
»Pollock«, rief Vera. Wir sahen sie fragend an.
»Pollock! Wenn ich den Namen Jackson Pollock höre, denke ich nicht an ein fertiges Gemälde, sondern an den Schaffensprozess. An den Künstler, wie er fast tanzend die Farbe tropfen lässt. Nicht an das Ergebnis, sondern an die Entstehung.«
»Nicht das Ergebnis, sondern die Entstehung«, wiederholte Irina beifällig.
Lorenz blickte hilfesuchend um sich. »Aber was ich mache, machen will… es hat nichts mit Pollock zu tun. Ich male, ich tanze nicht.«
Wieder setzten sich die Frauen in Bewegung. Irinas Füße schienen Versäumtes nachholen zu wollen, so schnell durchquerten sie den Raum. Abrupt blieb die alte Dame stehen.
»Der junge Künstler Lorenz Brauer widmet sein Leben einem einzigen Werk: der Ewigkeit . 43 Jahre, 86 Motive, 363 cm hoch und 473 cm breit. Doch wie sieht sie aus, Brauers Ewigkeit ? Bild für Bild lässt er sie verschwinden… und… und…«
»Die Zeit«,
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