Elsas Küche: Roman (German Edition)
Fleckchen und gruben unter dem Zaun abwechselnd ein Loch, durch das sie kriechen konnten. Danach waren ihre Hemden und Gesichter voller Erde, doch sie gelangten triumphierend zum Hauptzeltund kamen gerade noch rechtzeitig zur Vorstellung der Akrobaten.
Der Blick, den sie auf die Akrobaten erhaschen konnten, dauerte nur fünfzehn Sekunden – doch was für Sekunden! In dem kurzen Augenblick, den sie einheimsen konnten – bevor die Sicherheitsleute sahen, dass sie keine Plastikarmbänder trugen –, gerieten sie bei der Vorstellung, selbst Zirkusakrobaten zu sein, in einen Begeisterungstaumel. In Glitzerkostümen ohne Sicherheitsnetz durch die Luft zu wirbeln, fanden sie hinreißend. Sie strahlten, als sie sich ausmalten, wie die Zuschauer in der ganzen Welt sie mit aufgerissenen Mündern staunend über ihre Köpfen hinwegfliegen sahen. Der tosende Beifall danach ließ sie rot im Gesicht werden. Selbst als der Sicherheitsbeamte Verstärkung holte und vier erwachsene Männer sie umzingelten und an den Ohren aus dem Zelt führten, verrenkten sie sich die Hälse und dehnten die Ohrläppchen, um die Akrobaten noch einen kurzen Moment zu sehen. Dass man sie hinausgeworfen hatte, empfanden sie nicht als Niederlage. Sie hatten vielmehr gewonnen, denn sie hatten etwas Magisches erlebt.
Sie ließen den Zirkus hinter sich und gingen über die Brücke zurück in die Stadt. Der Älteste schwang sich aufs Geländer, als wäre es ein Drahtseil. Er stand auf einem Bein und wirbelte herum.
»So machen wir es«, erklärte er seinen Cousins.
Die beiden anderen nickten und klatschten. Sie bewunderten ihn lauthals, und er überschlug sich, machte einen Salto, und dann noch einen, und dann stand er auf und verbeugte sich.
»Mach’s noch mal! Wir wollen es noch mal sehn!«, riefen die Jungen.
Er nickte und dachte an die Akrobaten. Er dachte an den Beifall der Zuschauer. Er wölbte die Brust vor und versuchte einen dritten Salto, doch diesmal stürzte er. Er fiel vom Geländer und landete zu Füßen seiner Cousins.
»Was war das für ein Geräusch?« Sie hockten sich besorgt neben ihn.
»Mein Arm!«
Dennoch war es ein unvergesslicher Tag. Der einen gebrochenen Arm wert war. Auf dem Heimweg streckte er den Arm weinend zur Seite und versuchte, ihn möglichst vor Erschütterungen zu schützen. Seine Cousins versuchten, ihn abzulenken, und redeten vom Zirkus und den Kostümen, die sie tragen würden. Als sie zu Hause ankamen, waren sie wieder so aufgeregt und begeistert, dass es gar nicht leicht war, ihre Mütter davon zu überzeugen, dass der Arm des ältesten Jungen tatsächlich gebrochen war. Erst als er in der Nacht weinte, brachte man ihn schließlich ins Krankenhaus, wo der Arzt ihnen kopfschüttelnd erklärte, der Arm sei dreifach gebrochen. Der Junge bekam einen Gips und wurde nach Hause geschickt. Die Nachbarn kamen vorbei, um sich den Arm anzusehen, und gaben ihm dann für sein törichtes Verhalten einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Sei nicht albern«, sagten sie. »Du bist kein Akrobat!«
Als die Jungen sich einmal, es war ungefähr ein Jahr her, in die Straßenbahn schlichen, verletzte sich der Zweitälteste noch viel dramatischer. Die Jungen versuchten, auf die Straßenbahn aufzuspringen, als die Türen gerade zugingen. Dem Ältesten und dem Jüngsten gelang es, doch der Mittlereschaffte den Sprung durch die sich schließenden Türen nicht. Auf dem Trittbrett stolperte er und fiel in die Bahn hinein, während sein Bein in der Tür stecken blieb. Seine Verletzung erregte nicht nur Aufsehen, sondern verursachte großen Wirbel.
Eine Frau schrie: »Anhalten! Anhalten!«
Fahrgäste kamen zu ihm gerannt und zogen die Türen auseinander, doch dabei schnitt ein scharfes Stück Metall in sein Bein. Er heulte auf, und die Fahrgäste schrien, bis der Straßenbahnführer anhielt und über Funk einen Krankenwagen rief. Bis er da war, stoppten die Straßenbahnen in beiden Richtungen. Der Älteste und der Jüngste hockten sich zu ihm und versuchten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
»Diesmal hast du’s echt geschafft«, sagten sie bewundernd. »Wegen dir haben sie beide Bahnen gestoppt!«
Der Zweitälteste wurde mit Blaulicht und Martinshorn fortgebracht. Als man ihn in den Krankenwagen trug, winkte er seinen Cousins lächelnd zu. Nach dem Transport ins Krankenhaus nähte man die Wunde mit siebzehn Stichen. Seine Familie brachte ihn nach Hause, und die Nachbarn kamen vorbei und pfiffen durch die Zähne, als sie die
Weitere Kostenlose Bücher