Elsas Küche: Roman (German Edition)
geschwollene Naht an seinem Bein sahen. Dann gaben sie ihm für sein törichtes Verhalten einen Klaps auf den Hinterkopf.
»Was seid ihr nur für Kinder! Wegen euch fuhren die Straßenbahnen eine ganze Stunde lang nicht, und ich musste laufen!«
Die Jungen waren also an Verletzungen gewöhnt, ihre Umgebung rechnete geradezu damit. Die Kopfverletzung des Jüngsten war nur die letzte einer langen Reihe, doch würde es eine Weile dauern, bis sich herausstellte, ob sie indie Annalen denkwürdiger Unfälle eingehen würde, auch wenn es bereits ganz danach aussah.
Eine halbe Stunde nachdem die Jungen vor dem wilden Streit mit Elsa davongestolpert waren, immer dicht an Mauern und dunklen Ecken entlang, wie sie es sich gegenseitig beigebracht hatten, kamen sie zurück ins Romaviertel. Sie hatten doppelt so lang gebraucht wie normalerweise, weil sie wegen Pistis klaffender Wunde vorsichtig gehen mussten. Es war eine tiefe, stark blutende Stirnwunde über der rechten Augenbraue.
»Oooh, Pisti, du siehst aus wie ein Boxer!«, sagte der mittlere Cousin.
»Wie ein schlechter Boxer«, sagte der Älteste, »wie einer, der den Kampf verloren hat.«
»Sie war stärker als er«, verteidigte das mittlere Kind Pisti, obwohl das allen klar war.
»Statt sich zu ducken, hat er sich zurückgelehnt«, gab der Älteste zurück. »Jeder weiß doch, dass man sich ducken muss. Unser Onkel hat uns das gesagt!«
Pisti zuckte die Achseln. Er erinnerte sich an den Boxunterricht, verstand aber nicht, wozu Ducken hätte gut sein sollen. Die Frau war viel größer und stärker.
Die Jungen blieben stehen, und der Älteste nahm Pistis Gesicht in die Hände. In ein paar Tagen würde dort ein dunkellila Knoten sein, der vielleicht sogar eine Narbe hinterlassen würde, aber ins Krankenhaus würde er deswegen wahrscheinlich nicht müssen. Pistis Augen huschten nach links und rechts. Sie mussten die ganze Sache erst verarbeiten. Noch nie zuvor hatte jemand von außerhalb die Handgegen sie erhoben, keiner, der nicht zu den Roma gehörte, die ringsum wohnten, und schon gar keine Frau. Körperliche Gewalt außerhalb ihres direkten Umkreises konnten sie sich fast nicht vorstellen. Natürlich hatte man sie ihnen angedroht. Man hatte wild mit Besen gefuchtelt und Drohungen und Flüche gegen sie ausgestoßen, doch nie hatte jemand sie aggressiv geschlagen. So etwas tat man nicht. So hatte man es nicht gelernt. Als Jesus mit dem Kreuz auf der Schulter nach Golgatha stolperte, bestahl ihn ein Taschendieb, ein Zigeuner. Der Sohn Gottes schlug ihn nicht. Er wandte den Kopf und sah weg. Er sah weg! Er ließ ihn alles nehmen, was die Römer ihm gelassen hatten.
Die Jungen hatten ihr ganzes Leben lang nur einmal von einer Gewalttat gehört – von einer Bande kahl geschorener Schlägertypen, die ein Romamädchen vor einem Biergarten im Stadtpark angegriffen hatten. Schon ein paar Monate lang hatte diese Rowdybande Zigeuner schikaniert. Niemand wusste, woher sie kamen, doch sie hatten sich in Délibáb niedergelassen wie die schmierig aussehenden Krähen, die jeden Winter am Himmel einfielen. Es waren zornige junge Männer, die brüllten und sich in Pose warfen und jeden, der anders war, bedrohten – arbeitslose, rechtsgerichtete Nationalisten, die linke Regierungen ebenso hassten wie die freie Marktwirtschaft und die zunehmende Globalisierung. Genau darüber sprachen sie, als das fünfzehnjährige Mädchen vorbeiging. Sie verstummten plötzlich und folgten ihr mit den Augen. Zwei maskierte Grünschnäbel, die sich innerhalb der Gruppe profilieren wollten, verließen den Biergarten und liefen ein paar Meter hinter ihr her in den Park. Sie pfiffen hinter ihr her, bis sie schneller lief, und als niemand mehr in der Nähe war, griffen die jungen Männer sie an, schlugen sie zusammen und ließensie hinter einer Eiche liegen. Dann rannten sie zurück zum Biergarten und zeigten den anderen ihre zerschrammten Fingerknöchel. Die Bande feierte den Triumph, und alle gratulierten einander mit einer weiteren Runde Bier.
Sie ahnten nicht, dass ihr Schicksal besiegelt war, als das Mädchen nach Hause gelangte und ihrem Vater – einem Romaboss – alles erzählte. Er griff sofort zum Telefonhörer, und bald fand sich eine weitere Gang am Biergarten ein. Sie hatten Keulen, Rohre und sogar Samuraischwerter dabei. Kein Biergartenbesucher konnte sich vorstellen – geschweige denn verstehen –, dass wild blickende Zigeuner Samuraischwerter schwangen, doch plötzlich tauchte
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