Elsas Küche: Roman (German Edition)
Nachdem sie die letzten Gäste verabschiedet hatte, ging sie nach Hause und lief die ganze Nacht über nervös in ihrer Wohnung auf und ab. Sie war schweißgebadet und voller Essensflecken, zog sich aber nicht um – sie war außer sich und in Panik und konnte nichts dagegen tun. Sie goss sich einen Wodka ein und tigerte durch die Wohnung. Was für ein Chaos , dachte sie. Alles war nur noch schlimmer geworden: Sie hatte jetzt Probleme, von denen sie sich vor ein paar Tagen noch nichts hätte träumen lassen.
Irgendwann nachts sah sie aus dem Schlafzimmerfenster, weil sie dachte, ein Polizeiauto habe vor ihrem Haus gehalten. Es war nur eine Frage der Zeit. Obwohl der Wachtmeister sich nicht weiter um die Angelegenheit mit dem blutenden Jungen hatte kümmern wollen, war sie mittlerweile sicher, dass sie es mit der Polizei zu tun bekommen würde. Sie warf einen Blick auf die Wanduhr. Der Junge würde ganz bestimmt ins Krankenhaus kommen. Da würde er erklären, woher er die Verletzung hatte, oder die Augenzeugen würden es jemandem sagen. Elsa lehnte sich weit aus dem Fenster und schaute die Promenade hinunter. Wo war die Polizei? Sie blickte auf das Hotel gegenüber und dachte an den Kritiker, der dort schlief. Vor lauter Ekelbekam sie ein flaues Gefühl im Magen. Der Kritiker und die Dozenten würden am nächsten Morgen abreisen, und sie wusste, dass sie ihnen unter keinen Umständen gegenübertreten wollte. Sie würde es nicht über sich bringen, die beiden zu verabschieden, selbst nach allem, was der Professor für sie getan hatte.
Sie schenkte sich noch einen Wodka ein, es mochte ihr dritter sein – sie hatte nicht mitgezählt –, und musste plötzlich an den Küchenchef denken. Das war zumindest ein kleiner Lichtblick! Sie war ihn los. Natürlich würde sie einen Nachfolger finden müssen. Sie nippte an ihrem Glas und starrte aus dem Fenster, während ihr ein Stein vom Herzen fiel.
Draußen war alles ruhig. Niemand versuchte, ins Haus zu kommen, niemand suchte sie, niemand wollte etwas von ihr. Doch Elsa konnte sich nicht losreißen und sah immer wieder hinaus. Offen gesagt musste sie sich eingestehen, dass sie eigentlich am Fenster stand, weil sie erwartete und hoffte, das Schlimmste würde aus dem Dunkel auftauchen. Vielleicht sollte sie zur Polizei gehen und sich stellen. Anbieten, die Arztrechnung zu bezahlen. Sie musste an das Zuhause der Kinder denken. Wie soll eine arme Familie das schaffen? Der Arzt würde nur gute Arbeit leisten, wenn man ihm etwas zusteckte. Ohne Schmiergeld würde er sie an einen weniger erfahrenen Arzt abschieben. Etwas muss geschehen. Ich muss etwas tun!
Doch Elsa rührte sich nicht. Sie saß da, rieb sich die Augen und wartete. Dann zog sie sich die Socken aus. Pistis Namen kannte sie, doch wie die anderen Jungen hießen, wusste sie nicht. Sie fragte sich, wie das Blumenmädchen hieß, und war überrascht, dass sie die Namen nicht wusste, hatte sich aber nie Gedanken darüber gemacht. Mindestensfünf Jahre lang hatte sie diese Leute ständig gesehen. Wieso wusste sie dann ihre Namen nicht?
Als die Sonne aufging, saß Elsa immer noch am Fenster und war so überdreht und in Gedanken, dass sie zusammenzuckte, als die erste Straßenbahnglocke bimmelte. Sie sah sie unten vorbeifahren wie einen schwerfällig dahinkriechenden Tausendfüßler aus Metall. Sie fuhr aus der Innenstadt in die anderen Stadtteile hinaus, um die verschlafenen Menschenmassen aufzulesen. Elsa sah zur Kirchturmuhr hinauf und rechnete aus, wie lange sie für einen kurzen Besuch brauchte. Sie beschloss, sich auf den Weg zu machen. Sie stürmte aus der Wohnung und eilte ins Romaviertel.
Das rosige Morgenlicht wurde von den Schaufensterscheiben reflektiert, und auf den verlassenen Gehsteigen duftete es nach frisch gebackenem Brot. Die Bäckereien öffneten gerade, und vor den Läden hing der eindringliche Duft nach Hefe und Zucker über den Gehsteigen. Ihr fiel auf, dass es auf dem Weg ins Romaviertel mindestens drei Bäckereien gab, und aus irgendeinem Grund war das für sie ein gutes Omen, und sie war optimistisch. Der Gedanke an einen Neubeginn kam ihr in den Sinn. Ein Mensch kann immer noch einmal von vorne anfangen, rief sie sich in Erinnerung. War ihr eigenes Leben nicht das beste Beispiel dafür? Ebenso wie das Leben der Leute ringsum? Hatte die Geschichte das nicht bewiesen? Nichts konnte einen davon abhalten, wenn nötig wieder von vorne anzufangen. Warum auch, solange man noch atmete. Daran dachte Elsa
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