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Elsas Küche: Roman (German Edition)

Elsas Küche: Roman (German Edition)

Titel: Elsas Küche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fitten
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zurück in ihre Wohnung und nahm einen Umweg, um nichtam Hotel vorbeizumüssen. In ihrer Wohnung ließ sie sich aufs Bett fallen. Als um 10 Uhr das Telefon klingelte, hob sie den Hörer nicht ab. Sie wusste, es waren die Dozenten, die sie vor ihrer Reise zum See noch einmal sehen wollten. Sie hätte es nicht ertragen, ihnen jetzt zu begegnen. Sie ließ den Kopf nach hinten fallen und weinte sich in den Schlaf. Ihre Tränen galten vor allem der Tatsache, dass sie, wie ihr bewusst geworden war, in den letzten vierundzwanzig Stunden nichts richtig gemacht hatte. Sie hatte nichts Gutes zustande gebracht.

XII
    E lsas Leben hatte sich in den zwei Wochen seit den Vorfällen in der Tulpe so vollständig aufgelöst, dass man hätte meinen können, es mit dem dunklen Plan übereifriger Küchenfurien zu tun zu haben. Diese gefräßigen Vetteln gingen unglaublich gründlich vor: Muskel für Muskel sezierten sie Fasern und Sehnen, bis Elsa nur noch ein mattes, schlaffes Wrack war. Sie wussten genau, wo sie sie aufschneiden und wie sie sie ausweiden mussten. Mit ihren brüchigen, vergilbten Nägeln rissen sie sie auf und nahmen sie mit spielender Leichtigkeit aus, als wäre sie ein Heilbutt, der gleich zubereitet und serviert wird – leicht gewürzt und auf Zwiebeln gedämpft. Noch nie zuvor hatte Elsa erlebt, dass sich die Dinge für einen Menschen mit solcher Geschwindigkeit auflösten.
    Angela, das Blumenmädchen, war nach der Begegnung mit dem Ladenbesitzer nie mehr ins Restaurant gekommen. Da Elsa zwei Köche verloren und sich noch nicht um Nachfolger gekümmert hatte, musste sie die Tulpe abends zunächst geschlossen halten, und das mochte erklären, warum sie Angela nicht mehr sah. Doch war sie eine Woche lang jeden Tag ins Romaviertel gelaufen, aber auch dort hatte sie Angela nicht gesehen. Und die Jungen ebenso wenig. Das Häuschen blieb leer, und nach einer Weile kanntesie den Lattenzaun in- und auswendig – so oft hatte sie gegen den Zaun geschlagen und nach ihnen gerufen, sie wusste genau, wie sich das Holz anfühlte, und der unordentliche Hof mit den überall herumliegenden Zeitungen und dem überquellenden Mülleimer war ein vertrauter Anblick.
    Sie trieb sich oft dort herum – frühmorgens und noch einmal am Nachmittag, bei Sonnenaufgang und bei Sonnenuntergang, wenn das Licht erst rosafarben und dann golden war. Die Leute aus dem Viertel erkannten sie bald und warteten schon auf sie.
    Und was zwischen Elsa und dem kleinen Pisti vorgefallen war, verdichtete sich zu einer einzigartigen Geschichte, die sich die Kinder überall im Viertel erzählten, sodass sie trotz der Beschwichtigungsversuche der Erwachsenen irgendwann nicht mehr bereit waren, aus dem Haus zu gehen, wenn Elsa in der Nähe war.
    »Hey!«, sagten die Kinder, »ich geh jedenfalls nicht raus, wenn die stinkige Hexe draußen rumläuft. Sonst isst sie mich auch noch auf.«
    Die Kinder glaubten nämlich die Gerüchte, die sie gehört hatten, die Geschichten, die sie selbst erfunden und sich gegenseitig erzählt hatten und mit denen sie sich erklärten, wie es sein konnte, dass ein gewiefter kleiner Junge wie Pisti einfach verschwand. Die Einzelheiten dieser Geschichte änderten sich je nach Tageslicht, waren andere, wenn das Licht sich rosarot färbte oder golden. Sie verzerrten sich auf groteske Weise, verdichteten sich, schlugen Haken und sprangen in schwindelerregende Höhen der Fantasie. Doch auch wenn die Geschichte sich dauernd änderte, gab es einen Punkt, an dem die gesamte Fantasiewelt aufgehängt war wie an einem Nagel. Alle Kinder unter zwölf Jahren kannten diesen Punkt – so, wie sie wussten, dass die Sonneimmer gelb ist, auch wenn das Licht darüber hinwegtäuschte. Und alle Kinder glaubten dieses merkwürdige Detail, das immer wiederholt wurde und sich innerhalb eines einzigen Tages wie ein Lauffeuer im ganzen Viertel verbreitet hatte: dass Elsa den kleinen Pisti in der Nacht, in der er verschwand, wie in den alten Legenden aus den transsilvanischen Wäldern, in ihr Restaurant gelockt und dort verspeist hatte. Und sie meinten das ganz wörtlich! Nicht symbolisch oder metaphysisch. Sie glaubten ganz einfach, dass Elsa ihn aufgegessen hatte. Sie hatte seine Knochen gekocht und das Mark ausgesogen; aus dem Blut und der Leber hatte sie Blutwurst gemacht. Und das spärliche Fleisch, das er auf den Rippen hatte, hatte sie gewürzt und zu Kohlrouladen verarbeitet, die sie dann den Gästen servierte. Zuerst, sagten die Kinder, habe sie ihn

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