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Elsas Küche: Roman (German Edition)

Elsas Küche: Roman (German Edition)

Titel: Elsas Küche: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fitten
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hereingelockt, indem sie ihm ein Taschengeld versprach. Dann gab sie ihm eine Schale mit vergifteten Kirschen. So einfach war das. Er saß da und aß die Kirschen, während er mit dem Geld klimperte, das er in der Tasche hatte. Als er benommen wurde, lächelte Elsa ihn nett an und sang ihm ein Wiegenlied. Pisti streckte sich gähnend. Sie zauste ihm sanft das Haar und streichelte ihn. Und als er schließlich einnickte, zog sie ein Tranchiermesser unter ihrer Kochjacke hervor und schlachtete ihn mit einem einzigen sicheren Stich.
    »Ooh, die stinkige Hexe hat ihn gegessen!«, sagten die Kinder zueinander. »Und seinen Kopf hat sie in den Kühlschrank getan. Da ist er immer noch. Und sie reden miteinander! Und dann hat sie versucht, die anderen Jungen zu fangen und aufzuessen. Sie wollte ihre Köpfe auch in den Kühlschrank legen, damit Pisti nicht so einsam war, und deshalb ist die Familie weggegangen. Darum geh ich nicht nach draußen! Ich such heute kein Geld. Ich willnämlich nicht neben Pisti im Kühlschrank landen. Ich hab echt Angst. Ich geh nirgendshin!«
    Dass sich die jungen Arbeiter weigerten, aus dem Haus zu gehen, hatte auf das Viertel die gleichen Auswirkungen wie ein Arbeiterstreik auf die Fertigungsanlagen eines multinationalen Unternehmens. Alles kam zum Stillstand: Es war keiner mehr da, der Lasten trug, keiner brachte mehr Münzen von der Straße, keiner übermittelte mehr Nachrichten. Das Wirtschaftssystem des Viertels brach gleichsam zusammen. Bis auf Elsas Schläge ans Tor und ihre Rufe nach der verschwundenen Familie herrschte Totenstille.
    »Hallo! Bitte antworten Sie doch!«
    Wie ein Tier im Käfig ging Elsa auf und ab, und die Erwachsenen sahen ihr seufzend zu und verfluchten sie leise.
    Als sich herausstellte, dass die Flüche sie nicht davon abhielten, jammernd durch das Viertel zu laufen und jeden nach dem Verbleib der Familie zu fragen, straften die Leute sie als Nächstes mit hemmungslosem Spott.
    »Der Teufel erträgt alles, nur keinen Spott«, überlegten die Mütter. »Wir lachen sie einfach aus.«
    Wenn Elsa vorbeiging, schleuderten die Frauen ihr Beleidigungen ins Gesicht. Sie spuckten sie an. Sie bewarfen sie mit Knoblauch oder, wenn sie keinen hatten, mit Zwiebeln oder Schalotten oder Rettichen.
    »Mögest du auf immer kinderlos bleiben!«, war eine ihrer liebsten Verwünschungen. Und direkt danach warfen sie mit dem Gemüse. Elsa, die sich fragte, woher sie überhaupt wussten, dass sie keine Kinder hatte, fand diesen Fluch besonders seltsam.
    »Ja, ja«, erwiderte sie. »Ist ja gut ausgedacht, aber ich wollte sowieso nie Kinder.«
    »Weil du unfruchtbar bist und staubtrocken!«, war dieAntwort. »Für deine Tat soll dein Baby in deinem Leib ersticken!«
    »Mögen die Männer in deiner trockenen Höhle einschrumpeln und sich nie erleichtern!«, riefen die anderen. »Mögen sie bei deinem Anblick erblinden.«
    »Unfruchtbar!«
    »Trocken!«
    Die Männer hörten die Flüche und traten lachend aus den Häusern. Sie fanden die Flüche lustig und so urkomisch, dass sie nach Elsa Ausschau hielten, um sie näher zu betrachten – die unfruchtbare, staubtrockene, kinderfressende Küchenchefin.
    »Sie ist gar nicht so übel«, sagten die Männer verwundert, denn sie hatten eine Art Ungeheuer erwartet, eine Monsterfrau mit Hängebrüsten und sieben Bäuchen, schiefem Gesicht und breitem Mund. Doch zu ihrer Überraschung sahen sie eine zierliche Brünette am Tor stehen. »Die ist wirklich nicht übel. Sieht ganz in Ordnung aus.«
    »Hör mal«, riefen sie ihr zu, wenn ihre Frauen fertig waren. »Kümmer dich nicht um sie. Ich bin noch kein einziges Mal eingeschrumpelt! Das gibt’s überhaupt nicht. Gib mir drei Tage, dann helf ich dir weiter und mach dir ein Baby. Drei Tage, dann willst du nie wieder ein fremdes Kind fressen!«
    Nach ein paar Tagen reagierte Elsa nicht mehr auf die Beleidigungen. Sie geriet in Verzweiflung.
    »Haben Sie den kleinen Jungen gesehen, der in dem Häuschen wohnt? Oder seine Familie? Bitte helfen Sie mir – ich suche sie. Ich suche den Jungen.«
    »Du hast ihn aufgegessen!«, riefen die Kinder, die sich hinter den Röcken ihrer Mütter versteckt hatten.
    »Unfruchtbar und staubtrocken«, spotteten die Frauen.
    »Drei Tage«, stichelten die Männer. »Schwanger in drei – in zwei Tagen!«
    Dann schlugen Fenster und Türen zu, oder man kehrte ihr den Rücken, vertiefte sich in irgendeine Arbeit und nahm keine Notiz mehr von ihren Fragen.
    Als sie nach sieben Tagen

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