Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
jede andere Wahrnehmung ganz an den Rand des Bewusstseins, die Deckplatte rutschte zur Seite weg und knallte mit Getöse auf den Boden.
Im Sarg lag keine Mumie mit nur entfernt menschlichen Zügen, verdorrt über die Jahrhunderte. Im Inneren des Steins lag der König selbst, nicht nur seine entstellten Überreste: Er trug ein weißes Gewand mit goldenen Borten, die Hände lagen überkreuz auf der Brust. Weiße Finger schauten unter den langen Ärmeln hervor, mit der glatten Haut eines sehr jungen Menschen. Plötzlich war der Geist nicht mehr das Wesentliche im Raum, er verlor seine Bedeutung, als wenn der König ihn auf rätselhafte Weise überstrahlte. Robert konnte nun das Gesicht genau sehen, eingerahmt von dichtem, dunklen Haar. Es wirkte älter, als die Hände suggerierten, doch in Jahren vermochte Robert sein Alter nicht zu benennen. Der König war von einer bleichen, starren Schönheit, wie ein winterlicher See, doch eindeutig ohne einen Hauch von Leben. Und trotzdem: Was ging von ihm aus, dass Roberts Blick auf ihm verharrte, seine Seele auf ihm zustrebte, als läge hier ein geliebter Mensch, den er aus unbekannten Gründen eine Zeit lang völlig vergessen hatte? Dieses Gefühl war ihm so ungewohnt, dass es ihn an seinem ursprünglichen Vorhaben hinderte. Regte sich da etwas unter der starren Oberfläche des Toten, oder waren das nur die Schübe strahlenden Lichts, die das Innere des einst finsteren Steinsargs zum Leben erweckten?
Robert spürte die Berührung Ami-els, doch sein Abwehrreflex wurde im Keim erstickt: Plötzlich konnte er die Anwesenheit des Königs deutlich fühlen, viel realer, als er je den Geist eines lebendigen Menschen erfasst hatte. Ami-el war die Brücke zwischen ihnen, dem Toten und dem Lebenden. Nun wusste Robert, dass sie tatsächlich miteinander reden konnten, ganz egal, wie viele tausend Jahre der andere nicht mehr war. Was würde er zu sagen haben, dieser uralte König, dessen sterbliche Hülle unberührt blieb von jeglicher Verwesung?
„ Ich lade dich ein“, hörte er eine fremde Stimme sagen, ohne zu wissen, ob diese auch laut erklang. „Komm herein.“
In diesem Moment war Robert vor allem eines bewusst: Wollte er jemals über seinen eigenen Horizont hinausblicken - wirklich wissen , nicht nur ahnen - dann konnte er dieses Angebot nur annehmen. Das Risiko war ihm schlichtweg egal.
So ließ er sich einladen, vor diesen König zu treten, um zu hören, was er zu sagen hatte. Alles, was seine physischen Augen wahrnahmen, wurde undeutlich, hohl. Der Leib des Königs verschwamm, eine andere Wirklichkeit blendete sich vor. Robert sah nun das Tor vor sich, das ihn hinüberführte, dorthin, wo König Sirus sich befand. Es war ein schmales Tor, das von Fleisch und Blut nicht durchquert werden konnte, jetzt noch fest verschlossen. Selbst das, was nur aus Geist bestand, konnte nicht einfach so hindurch. Doch da war ein Wesen, das auf beiden Seiten zu leben schien, zertrennt und doch eins mit sich selbst. Und diese Kreatur stemmte das Tor auf, Robert spürte die enorme Kraft, die sie dabei freisetzte wie einen kräftigen Schub. Dieser Schub ging durch Körper und Geist, riss beides auseinander und zog Robert mit aller Gewalt in Richtung der unbekannten Dimension. Ihn erfasste ein starker Sog, dem nicht zu widerstehen war. Doch konnte er nicht erkennen, was hinter dem geöffneten Tor lag, ein tiefschwarzer Schatten war über allem. Ins Ungewisse zu gehen, bereitete ihm keine Probleme, er konnte seinen Körper ohne weitere Überlegung komplett loslassen und den Weg antreten.
Er spürte ein anderes Wesen an seiner Seite, während er dem Sog nachgab und ins Dunkel stürzte. In der direkten Berührung erkannte Robert den Geist wieder: Ami-el war der Toröffner, der auch die Totenwelt bewohnte, seine Dimensionen erwiesen sich weiter als erahnt. Am Ende tiefer Dunkelheit glitt Roberts Blick auf ein helles Land im Schein einer sehr real anmutenden Sonne. Ami-el zog sich sogleich zurück, der Geist war von einem Moment zum nächsten nicht mehr spürbar. Robert sah weiße Häuser, strahlend im hellen Licht, umgeben von festen Mauern vor reich bepflanzten Feldern. Daneben auch solide Holzgebäude, sogar mit kleinen Türmen versehen. Auf den Dächern waren Flaggen und Wimpel befestigt, die meisten in kräftigem Purpurrot, sie standen unnatürlich steif entfaltet, als seien sie aus Gips gegossen. Auf den Fahnen erkannte Robert das Wappen des alten Königreiches, zwei Engel die eine Krone
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