Elurius (Vater der Engel) (German Edition)
aufsässiges Benehmen an den Tag legte.
------- ELISA SLEYVORN -------
In der Nacht war ihr der Schlaf fern geblieben. Sie hatte nichts als eine tiefe Unruhe verspürt, und ihre Gedanken krampfhaft daran zu hindern versucht, ziellos umherzuwandern zu Personen und Orten, über die sie niemals wieder hatte nachdenken wollen. Vielleicht machte es ihr hauptsächlich zu schaffen, dass Asnos Zeit so nah daran war, zu verstreichen. Aber es schien noch einiges mehr hinter diesem inneren Aufruhr zu stecken: Derjenige, der nun den Preis für Asnos Rettung zahlen sollte, ging ihr nicht aus dem Kopf.
Glaube nicht, dass deine Opfer genügen werden.
Sie schüttelte sich geradezu, um diese Worte wieder loszuwerden. Ja, sie hatte ganz recht geantwortet: Ihre Opfer mussten genügen. Die wahren Kinder ihres Volkes würden überleben. Dies war für sie der einzige Weg zur Freiheit.
Elisas bevorzugter Lehnstuhl war heute den ganzen Morgen über leer geblieben, das Buch lag zugeklappt auf der Sitzfläche. Sie ging im Haus herum, starrte durch die Fenster. Sie wartete auf die Geister. Bald schon würde dies alles hinter ihr liegen und sie konnte das unliebsame Kapitel, in dem sie sich befand, abschließen.
Die Mittagszeit war schon lange verstrichen, als sie endlich das vertraute Flüstern hörte. Sie sprachen nicht mit hörbaren Stimmen und nur Menschen mit extrem feinem Gespür konnten sie überhaupt wahrnehmen. Elisa waren die treuen Helfer der Familie schon seit ihrer Kindheit vertraut, die früh verstorbene Mutter hatte sie über Jahre hinweg liebevoll in das alte Erbe eingeführt.
Man konnte mit ihnen keine Unterhaltung führen, wie mit Menschen, obwohl es sich bei ihnen zweifellos um vollständige Persönlichkeiten handelte. Ihre Botschaften bestanden aus einem Zusammenwirken von Bildern, Gefühlen und einigen darin verstreuten Worten. Elisa hatte gelernt, ihnen auf eine sehr ähnliche Art zu antworten.
Nun meldeten sie ihr genau das, was sie erwartete. Der, dessen Verfolgung sie auf ihr Geheiß hin aufgenommen hatten, war schlussendlich zu keiner Gegenwehr mehr fähig. Sie waren seinem Weg gefolgt, hatten ihn aus der Entfernung beobachtet, bis er nicht mehr auf seinen Beinen stand. Dann waren sie augenblicklich zurückgekehrt, um ihr zu berichten. Und sie hatten ihr etwas mitgebracht, es lag draußen auf dem Fensterbrett vor dem Fenster ihrer Stube.
Elisa verließ das Zimmer im oberen Stock, in dem sie sich gerade befand, und ging die Treppe hinunter, geradewegs zur Stube. Schon durch die Scheibe konnte sie das Mitbringsel liegen sehen: ein kleinformatiges, in schwarzes Leder gebundenes Buch. Sie öffnete das Fenster und nahm das Buch in die Hand. Auf Vorder- und Rückseite war keine Aufschrift aufgebracht, doch der Buchrücken trug in den alten Schriftzeichen einer anderen Sprache den Titel. Elisa hatte zuletzt vor Jahrzehnten etwas Geschriebenes in der von den wenigen Eingeweihten so genannten "Alten Sprache" zu sehen bekommen. Nur eine sehr geringe Zahl Gelehrter ihres Volkes, die zudem über mehrere Länder der Erde verstreut waren, beherrschten diese Sprache. Man sagte, weit entfernte Urahnen der Bacidas hätten sie gesprochen - und in ihr sei das gesprochene Wort von ungewöhnlich zerstörerischer Kraft.
Man hatte Elisa als Kind in der Alten Sprache unterrichtet, bis sie in der Lage gewesen war, sich selbstständig Wissen durch die in dieser Sprache verfassten Schriften anzueignen. Sie konnte den Titel des Buches problemlos lesen. Es nannte sich "Der neue Weg".
Die Seiten waren von einer sauberen, gradlinigen Handschrift ausgefüllt und der Text war in derselben Sprache verfasst, wie auch der Titel. Die Sätze ließen sich derart flüssig lesen, dass Elisa bei den ersten Zeilen erstaunte. Es schien beinah, als sei der Text von einem Muttersprachler verfasst worden, Satzstellung und Wortschatz übertrafen sogar ihre eigenen Kenntnisse. Doch auf diesem weiten Erdenkreis existierte seit Jahrtausenden niemand mehr, der die Alte Sprache von klein auf im Alltag verwendete. Es würde eine Menge Konzentration erfordern, dieses Machwerk zu lesen und bis auf dessen Grund vorzudringen.
Doch die Geister drängten sie, es beiseitezulegen, an einen gut versteckten Ort. Sie hob den Kopf und wandte ihnen wieder ihre Aufmerksamkeit zu. Sie bedeuteten ihr, sie könne ohne Sorge sein. Asno würde wieder gesund werden, wo auch immer er sei. Und diesen anderen, um den sie bangte, auch ihn konnten sie retten.
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