E.M. Remarque
zögerte. »Du kannst ihm trauen«, sagte 509, der neben ihm hockte.
»Lewinsky hat von ihm gesprochen, als er das letzte Mal hier war.«
Er wandte sich zu Goldstein. »Ich heiße jetzt Flormann. Was gibt es Neues? Wir
haben lange nichts von euch gehört.«
»Lange? Zwei Tage ...«
»Das ist lange. Was gibt es Neues? Komm hier herüber. Hier kann keiner
zuhören.«
Sie setzten sich abseits von den anderen. »Gestern nacht haben wir in Block 6
über unser Radio Nachrichten hören können. Englische. Wir hatten viele
Störungen; aber eine kam klar durch. Die Russen beschießen bereits Berlin.«
»Berlin?«
»Ja ...«
»Und die Amerikaner und Engländer?«
»Da waren keine neuen Nachrichten. Wir hatten Störungen und mußten vorsichtig
sein. Das Ruhrgebiet ist eingekreist, und sie sind weit über den Rhein, das ist
sicher.«
509 starrte auf den Stacheldraht, hinter dem ein Streifen Abendrot unter
schweren Regenwolken glomm. »Wie langsam das alles geht ...«
»Langsam? Das nennst du langsam? In einem Jahr sind die deutschen Armeen von
Rußland bis nach Berlin und von Afrika bis zur Ruhr zurückgetrieben worden –
und du redest von langsam?«
509 schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Es ist langsam für hier. Für
uns. Auf einmal! Verstehst du das nicht? Ich bin viele Jahre hier – aber dieses
scheint das langsamste Frühjahr von allen zu sein. Es ist langsam, weil es so
schwer ist, zu warten.«
»Ich verstehe.« Goldstein lächelte. Die Zähne standen kreidig in seinem grauen
Gesicht. »Ich kenne das. Nachts besonders. Wenn man nicht schlafen kann und
keine Luft kriegt.« Seine Augen lächelten nicht mit. Sie blieben ausdruckslos
und bleifarben. »Verdammt langsam ist es, wenn du es so nimmst.«
»Ja, das meine ich. Vor ein paar Wochen wußten wir noch nichts. Jetzt erscheint
alles schon langsam. Sonderbar, wie sich das verändert, wenn man Hoffnung hat.
Und wartet. Und Angst hat, daß man noch erwischt wird.« 509 dachte an Handke.
Er war noch nicht außer Gefahr. Die Schiebung wäre halbwegs ausreichend
gewesen, wenn Handke 509 nicht persönlich gekannt hätte. 509 wäre dann einfach
der Tote geworden, so wie der Tote als 509 verbucht war. Jetzt war er offiziell
tot und hieß Flormann, doch er befand sich immer noch im Kleinen Lager.
Etwas anderes war nicht zu erreichen gewesen; es war schon viel, daß der
Blockälteste von Baracke 20, in der Flormann gestorben war, mitgemacht hatte.
509 mußte vorsichtig sein, damit Handke ihn nicht sah. Er mußte auch vorsichtig
sein, damit nicht irgendein anderer ihn verriet. Außerdem war immer noch Weber
da, der ihn bei einer unvermuteten Kontrolle wiedererkennen konnte.
»Bist du allein gekommen?« fragte er Goldstein.
»Nein. Es sind noch zwei andere mitgeschickt worden.«
»Kommen noch mehr?«
»Wahrscheinlich. Aber nicht offiziell als Überweisungen. Wir haben drüben
mindestens fünfzig bis sechzig Leute versteckt.«
»Wo könnt ihr so viele verstecken?«
»Sie wechseln jede Nacht die Baracken. Schlafen anderswo.«
»Und wenn die SS sie zum Tor kommandiert? Oder zur Schreibstube?«
»Dann kommen sie nicht.«
»Was?«
»Sie kommen nicht«, wiederholte Goldstein. Er sah, daß 509 sich erstaunt
aufgerichtet hatte. »Die SS hat keine genaue Übersicht mehr«, erklärte er.
»Seit ein paar Wochen ist das Durcheinander jeden Tag größer geworden. Wir
haben dazu getan, was wir konnten. Die Leute, die gesucht werden, sind
angeblich immer auf Kommandos geschickt worden oder einfach nicht aufzufinden.«
»Und die SS? Kommt die nicht, sie zu holen?« Goldsteins Zähne blinkten. »Nicht
mehr gerne. Oder höchstens in Trupps und bewaffnet. Gefährlich ist nur die
Gruppe, in der Niemann, Breuer und Steinbrenner sind.«
509 schwieg eine Weile. Es war zu unglaublich, was er gerade gehört
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