E.M. Remarque
vergessen kann und was nicht. Wir alle müssen
vieles vergessen. Sonst können wir ebenso gut hier bleiben und sterben.«
Bucher hatte etwas wiederholt, was 509 am Abend vorher gesagt hatte. Wie lange
war das her? Jahre. Er schluckte einige Male. »Du lebst«, sagte er dann mit
Anstrengung.
»Ja, ich lebe. Ich bewege mich, ich spreche Worte, ich esse Brot, das du mir
herüberwirfst – und das andere lebt auch. Lebt! Lebt!«
Sie drückte die Hände gegen die Schläfen und wendete den Kopf. Sie sieht mich
an, dachte Bucher, sie sieht mich schon wieder an. Sie spricht nicht nur mehr
gegen den Himmel und den Hügel mit dem Haus.
»Du lebst«, wiederholte er. »Das ist genug für mich.«
Sie ließ die Hände sinken. »Du Kind«, sagte sie trostlos. »Du Kind! Was weißt
du schon?«
»Ich bin kein Kind. Wer hier war, ist kein Kind. Nicht einmal Karel, der elf
Jahre alt ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das meine ich nicht. Jetzt glaubst du, was du sagst.
Aber es wird nicht halten! Das andere wird wiederkommen. Bei dir und bei mir.
Die Erinnerung, später, wenn ...«
Warum hat sie es mir gesagt? dachte Bucher. Sie hätte es mir nicht sagen
sollen, dann hätte ich es nicht gewußt, und es wäre nicht dagewesen. »Ich weiß
nicht, was du meinst«, sagte er.
»Aber ich glaube, daß für uns andere Regeln gelten als die gewöhnlichen. Es
gibt Leute hier im Lager, die Menschen getötet haben, weil es notwendig war« –
er dachte an Lewinsky –, »und diese Leute halten sich nicht für Mörder, ebenso
wenig wie ein Soldat an der Front sich für einen Mörder hält. Sie sind auch
keine. So ähnlich ist es mit uns. Was uns geschehen ist, kann man nicht mit
normalen Maßstäben messen.«
»Du wirst anders darüber denken, wenn wir hier heraus sind ...« Sie blickte ihn
an. Er verstand plötzlich, warum sie in den letzten Wochen so wenig Freude
gezeigt hatte. Sie hatte Angst gehabt – Angst vor der Befreiung.
»Ruth«, sagte er und fühlte, wie eine rasche Hitze hinter seiner Stirn
aufstieg. »Es ist vorbei. Vergiß es. Man hat dich zu etwas gezwungen, das du
verabscheut hast. Was bleibt davon? Nichts. Du hast es nicht getan. Man hat nur
getan, was man selbst wollte. Und bei dir ist nichts geblieben als Abscheu.«
»Ich habe mich erbrochen«, sagte sie leise. »Ich habe mich hinterher fast immer
erbrochen. Sie haben mich schließlich weggeschickt.« Sie sah ihn immer noch an.
»Das ist es, was du hast – graue Haare, einen Mund, in dem viele Zähne fehlen,
und eine Hure.«
Er zuckte zusammen bei dem Wort und erwiderte lange nichts. »Sie haben uns alle
erniedrigt«, sagte er endlich. »Nicht nur dich. Uns alle. Alle, die hier sind,
alle, die in allen Lagern sind. Dich in deinem Geschlecht; uns alle in unserem
Stolz und in mehr als unserem Stolz; in unserem Menschsein. Sie haben darauf
herumgetrampelt, sie haben es bespuckt, und sie haben uns so erniedrigt, daß
man nicht weiß, wie wir es überstanden haben. Ich habe in den letzten Wochen
oft darüber nachgedacht. Ich habe auch mit 509 darüber gesprochen. Sie haben so
vieles getan – auch mir ...«
»Was?«
»Ich will nicht darüber sprechen. 509 hat gesagt, daß es nicht wahr ist, wenn
man es innerlich nicht anerkennt. Ich habe das zuerst nicht verstanden. Jetzt
aber weiß ich, was er meint. Ich bin kein Feigling, und du bist keine Hure.
Alles, was man uns getan hat, bedeutet nichts, solange wir uns nicht so
fühlen.«
»Ich fühle mich so.«
»Wenn wir herauskommen, nicht mehr.«
»Noch mehr.«
»Nein. Wenn es so wäre, dann könnten nur wenige von uns weiterleben. Man hat
uns erniedrigt; aber wir sind nicht die Erniedrigten. Es sind die anderen, die
es getan haben.«
»Wer sagt das?«
»Berger.«
»Du hast gute Lehrer.«
»Ja – und ich habe vieles gelernt.«
Ruth lehnte den Kopf zur Seite. Ihr Gesicht war jetzt müde.
Der Schmerz war noch darin; aber es war kein Krampf
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